K3 No. 3 - Juli 2023

| 03 | 2023 29 Fachkräftemangel Schwerpunkt Gute Berufsorientierung – kein Fachkräftemangel? Orientierung tut not Lässt sich der allgegenwärtige Fachkräftemangel vielleicht durch eine effektivere Berufsorientierung beseitigen? Nein, sagt Barbara Klamt, Geschäftsführerin der Evangelischen Jugendsozialarbeit in Bayern. Aber sie würde manche Probleme lösen. wo sie diese Neigungen und Kompetenzen einsetzen könnten. Es fehlt häufig die Person, die Jugendliche über einen längeren Zeitraum unterstützt und Optionen aufzeigt, wohin die Reise gehen könnte; es gibt zu wenig vertrauenswürdige Erwachsene, die sie begleiten. Und den vielen Erwachsenen fehlt eine echte Kenntnis der verschiedenen Branchen und dessen, welche Neigungen und Kompetenzen dafür geeignet und notwendig sind. Es käme auch darauf an, jungen Menschen Mut zu machen, Berufe auch erstmal nur auszuprobieren. Haben junge Menschen vielleicht auch keine oder eine negative Haltung zum abstrakten Begriff des „Berufslebens“? Das Konstrukt „Arbeitswelt“ ist tatsächlich überwältigend groß für junge Menschen. Ich hatte vor einiger Zeit eine Frau in der Frage der Berufswahl begleitet; sie wollte Fotografin werden. Man kann dafür eine duale Ausbildung oder ein Studium absolvieren. Ich hatte ihr zur dualen Ausbildung geraten. Ihre Reaktion: „Dann muss ich ja jeden Tag von 9 bis 17 Uhr hin. Ich mache lieber ein Studium.“ Junge Menschen erschrecken oft vor der Verpflichtung, die sie mutmaßlich mit einer Berufswahl eingehen. Man muss also an ihrer Vorstellung von „Arbeit“ ansetzen, denn heute erlebe ich oft, dass bei Jugendlichen Arbeit mit Maloche gleichgesetzt wird, die kaum Selbstentfaltung zulässt. Wonach suchen junge Menschen? Das kann man pauschal nicht sagen. Aber die meisten sehnen sich nach so etwas wie Entfaltungsmöglichkeiten und Coolness – aber auch Spaß und Sicherheit. Welche Rolle spielt die Peergroup? Das wären eigentlich gute Multiplikator*innen. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Peer einen jungen Mensch dazu bringt, gegen seine Interessen zu entscheiden. Ich kenne einen jungen Afghanen, der mit Hingabe ein ausgebildeter Bäckereifachverkäufer ist. Seine Peer sagt, dass das uncool sei. Jetzt will er Klempner werden, weil das männlicher wäre. Gibt es einfach zu viele Optionen für junge Menschen? Das ist gut möglich. Ich brauche deshalb Leute, die einen Überblick über Berufsfelder haben und die objektiv über diese Berufsfelder sprechen können. Oft genug werden ganze Berufsfelder schlechtgeredet – denken wir an Kinder- oder Altenpfleger*innen. Oder das Jobcenter benennt nicht die Potenziale, die in bestimmten Berufen stecken – denken wir an den Bereich Hauswirtschaft. Dort gibt es beispielsweise in der ständig wichtiger werdenden Gemeinschaftsverpflegung für die Zukunft spannende Entwicklungsmöglichkeiten. Wie sähe ein idealtypisches System der Berufsorientierung aus? Es wäre schön, wenn allen klar wäre, dass junge Menschen gezielt und individuell bei der Berufswahl unterstützt werden müssen. Es gibt Jugendliche, die sind in der Berufswahl sehr erfolgreich. Sorgen bereiten junge Menschen, denen der Berufseinstieg zunächst nicht glückt. Die Agentur für Arbeit ist da nur bedingt hilfreich. Das beginnt schon bei der Form der Kommunikation mit den Bewerber*innen: Schreibstil, Rechtsbehelfsbelehrung, das graue Papier … das ist alles nicht sexy. Die Erfahrungen von Jugendlichen mit der Agentur sind oft nicht zufriedenstellend. Dabei wäre das System eigentlich gut. Und wer ist noch gefordert? Man muss den Blick junger Menschen auf die Berufswelt weiten, Exkursionen machen, längere Arbeitserfahrungen ermöglichen oder berufstätige Eltern mehr einbinden. Und es könnte andere Orte der Berufsorientierung geben – den Ganztag zum Beispiel. Auch der Bereich der gesellschaftspolitischen Jugendbildung kann ein Akteur sein. Das alles wird das Fachkräfteproblem nicht lösen. Unser System der Berufsorientierung ist durchaus vielfältig. Auch Zuwanderung wird Warum stehen Bundeswehr und Polizei laut aktuellem „Schülerbarometer“ ganz oben auf der Liste der Berufswünsche von Jugendlichen? Ich kann mir durchaus vorstellen, dass diese Arbeitgeber für junge Männer attraktiv sind. Ob sie dann tatsächlich dort einsteigen, ist eine zweite Frage – die Ausbildung verlangt insbesondere körperlich einiges ab. Eine Kollegin erzählte mir neulich von ihrem Besuch einer Berufsbildungsmesse. Dort war die Bundeswehr mit einem Hubschrauben präsent. Das beeindruckt wahrscheinlich mehr als der Infostand der Fachakademie für Sozialwesen … Mit mehr Geld geht also auch mehr? Bedingt. Der Hotel- und Gaststättenverband hatte vor Jahren eine Imagekampagne gestartet: Die Branche sei attraktiv und cool, hieß es. Trotzdem sind nur ganz wenige Bewerber*innen tatsächlich geblieben, weil die Realität in den Ausbildungsbetrieben anders aussah. Versprechen bei der Einstellung und beruflicher Alltag müssen im Einklang miteinander stehen. Die letzte Münchner Jugendbefragung hat ergeben, dass sich junge Menschen unzureichend über berufliche Möglichkeiten informiert fühlen. Wie kommt das? Wir müssen uns vorstellen, dass in der Realität Jugendliche oft nicht mal genau wissen, was ihre Eltern tatsächlich beruflich machen, weil sie deren Arbeitsstelle noch nie gesehen haben. Junge Menschen kommen aus der Schule und haben meist sehr wenige persönliche Eindrücke aus der Arbeitswelt – außer vielleicht aus Bereichen, die sie kennen – Einzelhandel, Schule. Sie brauchen aber eine persönliche Einschätzung von dem, was sie wollen. Diese Erfahrungen fehlen ihnen, um ein innerliches „Go“ in Sachen Beruf zu formulieren. Da nützen auch die kurzen Praktika als Schüler*in wenig. Wie wird aus einer Neigung ein tatsächlicher Beruf? Die Einflüsse sind vielfältig. Vielleicht erkennen junge Menschen ihre Kompetenzen, oft tun sie das auch nicht. Ihnen fehlt der Überblick, Berufsorientierung muss auf das Individuum zugeschnitten sein – und die Lebenswelt der Jugendlichen einbinden. Foto: ejsa Bayern

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