K3 No. 1 - Februar 2018

| 01 | 2018 23 Eltern & Familie Schwerpunkt Elternschaft heute – Zwischen Vielfalt und Pragmatismus Die Form folgt der Funktion Regina Vogel leitet den Bereich „Frauen, Familie, Kinder“ im Verein Stadtteilarbeit Milbertshofen. Das Viertel hat sich in den zurückliegenden Jahren dramatisch verändert. Das bleibt nicht ohne Folgen für Familienstrukturen und das täglich Leben. Ein Ortstermin. Ist das Konzept einer Familie heute en vogue? Es gibt so viele Modelle und Möglichkeiten des Zusammenlebens. Die Vielfalt im kulturellen Habitus bedingt eine breite Streuung von Lebensformen. Es gibt hier in Milbertshofen alles: von Singles bis zur klassischen Familie. Tatsächlich wächst die Zahl dieser Familien mit Kindern – trotz der angespannten Wohnungssituation in München. Familie gehört offenbar für die meisten Menschen zum normalen Lebensplan. Welchen Wert verkörpert Familie? Ich mutmaße, dass die Globalisierung die Welt unsicherer gemacht hat. Deshalb zieht man sich ins Überschaubare zurück und lebt in einer Familie. Dort hat man die Kontrolle über sein Nahfeld. Aber das ist nur meine Vermutung. Schauen wir auf Milbertshofen. Wie haben sich hier Famili- enstrukturen verändert? In den letzten Jahren sind viele Menschen aus anderen Ländern und Kulturkreisen zugezogen. Milbertshofen ist wohl Spitzenreiter in München, wenn es um Multikulturalität geht. Aber das hat dem Viertel eher gut getan. Schwierig – nicht zuletzt durch die Nähe zu BMW – ist die Wohnungs- situation. Die gut verdienenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Unternehmens verdrängen die angestammte Mieterschaft und die klassischen Familien. Es gibt zu wenig Wohnungen. Die, die da sind, sind für größere Familien oft zu klein. Das ist hier eine der größten Herausforderungen für Familien. Welche Formen von Familie etablieren sich im Viertel? In Milbertshofen gibt es aufgrund der industriellen Geschichte meist kleine Wohnungen. Deshalb leben viele Singles hier. Dazu kommen sogenannte normale Familien – also eben Mutter, Vater und Kind. Dass jetzt nur noch kinderlose Doppelverdiener oder gleichgeschlechtliche Paare im Viertel leben würden, kann man nicht beobachten – obwohl die sich diese Wohnungen vielleicht eher leisten könnten. Was bedeutet es heute, Eltern und Familie zu sein? Diese Frage trifft insbesondere die Gestaltungsmöglichkeiten hin- sichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Modelle, in denen sich beide Eltern sowohl beruflich weiterentwickeln wie auch ge- nügend Zeit mit ihren Kindern verbringen können, wären denkbar, wenn alle Beteiligten – Politik, Wirtschaft, Eltern – ein Interesse daran hätten. Es gibt viele zugewanderte Familien. Kollidiert deren Familien- bild mit dem der meisten Deutschen? Wir haben im Viertel eine gute Angebotsstruktur für Familien. Das bedeutet, dass wir die Möglichkeiten dafür schaffen, dass sich alle Kulturen – und damit verschiedene Sichtweisen auf Familie – begeg- nen können, sich austauschen. Das hat in den letzten Jahren dazu geführt, dass man in den allermeisten Fällen mit großem Respekt für den Lebensentwurf des Anderen miteinander umgeht. Das Familienverständnis zugewanderter Menschen unterschei- det sich vom deutschen etwa dadurch, dass mehrere Generati- onen unter einem Dach leben … Das ist ein riesiges Problem für Großfamilien, die manchmal mit sieben Personen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung leben müssen. In anderen Kulturen sind Familien auch gewohnt, dass sich ein großer Teil des Lebens draußen und vor der Tür abspielt. Das ist hier ganz anders und führt manchmal zu Spannungen. Wenn man familiäre Strukturen möglichst weit fasst: Welche Strukturen sind für Kinder besonders förderlich? Kinder brauchen das Gefühl, dass sie gewollt sind. Man muss ihnen Raum und die Möglichkeiten geben, Freunde zu treffen, sich sicher zu fühlen und ihre Potenziale zu entdecken. Eine Familie bildet dafür die Klammer – und zwar unabhängig davon, wie sie zusammenlebt. Die Formen von Familie – klassisch, Patchwork, gleichgeschlechtliche Eltern oder binationale Partnerschaften – sind aus Sicht der Kinder sekundär. Die Bedingungen des Zusammenlebens sind entscheidend – und das bedeutet vor allem ein Gefühl der Sicherheit. In Syrien wird niemand danach fragen, welche Form der Familie die beste ist. Denn dort ist die Basis einer jeden Familie bedroht. Keine kann sicher sein. Oder anders gesagt: Die Form folgt der Funktion einer Familie – Schutz, Geborgenheit und Entwicklungsmöglichkeiten zu bieten. Interview: Marko Junghänel Foto: Stadtteilarbeit Milbertshofen Begegnungen ermöglichen, Vielfalt erleben, Zusammenleben fördern – alle Familien sollen sich im Stadtteil wohlfühlen, zum Beispiel im Rahmen von regelmäßigen Stadtteilfesten

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