K3 No. 4 - September 2020

Dachzeile 20 das kommt | 04 | 2020 Alles anders. Oder? Jugendarbeit in Corona-Zeiten Schwerpunk Junge Menschen in der Pandemie Alleingelassen und nicht beachtet Am 16. März wurden alle Schulen geschlossen. Bis zum 24. Juli (letzter Schultag) wurde kein geregelter Unterricht aufgenommen. Wie es nach den Ferien weitergeht? Unklar! Am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf erforschen Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler die Folgen der Corona-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Sie kommen Mitte Juli zu dem Ergebnis, dass sich die psychische Gesundheit und die Lebensbedingungen der Minderjährigen in Deutschland verschlechtert haben. Das Risiko einer psychischen Auffälligkeit steigt von 18 auf 31 Prozent. Die meisten jungen Menschen fühlen sich belastet, bei rund der Hälfte hat das Verhältnis zu Freunden und Freundinnen durch den mangelnden physischen Kontakt gelitten. Die starke Verschlechterung des psychischen Wohlbefindens im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit über- rascht sogar die Forschung. Für zwei Drittel der Heranwachsenden ist das Lernen für die Schule anstrengender als vor Corona. Eine für die psychische Gesundheit wichtige Tagesstruktur fällt weg. Die Studie zeigt, dass Kinder aus Familien mit einem niedrigen formalen Bil- dungsabschluss oder mit Migrationserfahrung stärker betroffen sind. 3 Soziales Gefälle noch steiler Die soziale Ungleichheit verschärft sich durch Corona weiter. 24 Prozent der Kinder aus Familien, die Grundsicherung beziehen, verfü- gen über keinen internetfähigen PC zuhause. 4 Fast die Hälfte dieser jungen Menschen wohnt in einer Wohnung, die nicht ausreichend Platz bietet, um in Ruhe lernen zu können. Damit wird deutlich, dass die Bildungsungerechtigkeit während des Lockdowns weiter zugenommen hat. Wer sich die Schulaufgaben nicht aus dem Netz herunterladen oder an den (rar stattfindenden) Videokonferenzen teilnehmen kann, wer sich zuhause nicht auf Schulaufgaben konzentrieren kann, weil es kein eigenes Kinderzimmer gibt, der kommt zwangsläufig mit einem nicht selbstverschuldeten Lernrückstand zurück in die Schule. Die Schließung von Kitas, Schulen und sozialen Einrichtungen hat aber gerade für Kinder aus finanziell prekären Verhältnissen noch weitere negative Auswirkungen, denn für sie fallen größtenteils die ko- stenlosen Mittagessen in den Einrichtungen weg. Durch die Schließung der „Tafeln“ und deren teilweise nur sehr zögerliche Wiedereröffnung wird es für arme oder von Armut bedrohte Familien noch schwerer, günstige und abwechslungsreiche Lebensmittel zu erhalten. All diese Ergebnisse zeigen vor allem eines: Die Auswirkungen der Pandemie und des Lockdowns auf junge Menschen sind nicht in weni- gen Wochen überwunden, wenn alles wieder halbwegs „normal läuft“. Junge Menschen hatten in den vergangenen Monaten in erster Linie zu funktionieren, keine Ansprüche zu stellen, keine eigenen Bedarfe zu haben, auf die sowieso kaum jemand Rücksicht genommen hat. Der Lockdown hat sich wie ein Brennglas auf bereits bestehende – ver- steckte oder verdrängte – Probleme gerichtet. Jetzt sind sie für alle sichtbar: die immer noch bestehende Bildungsungerechtigkeit, die Armutslagen von Familien, die Schutzlosigkeit vieler junger Menschen in ihrem sozialen Nahfeld, die psychische Belastung vieler Kinder und Jugendlicher. Welche Lehren ziehen wir daraus? Dr. Manuela Sauer, Grundsatzreferentin, KJR 1)vgl. Mediziner berichten über massive Gewalt gegen Kinder in: Der Tagesspiegel vom 15.5.2020, www.tagesspiegel.de/politik/ knochenbrueche-oder-schuetteltraumata-mediziner-berichten-von- massiver-gewalt-gegen-kinder/25833740.html 2)Kindsein in Zeiten von Corona: Deutsches Jugendinstitut, erste Ergeb- nisse vgl.: www.dji.de/themen/familie/kindsein-corona-ergebnisse. html 3)COPSY-Studie des UKE, vgl. www.uke.de/allgemein/presse/ pressemitteilungen/detailseite_96962.html 4)Kinderarmut: eine unbearbeitete Großbaustelle. Bertelsmann Stiftung, vgl. www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/ 2020/juli/kinderarmut-eine-unbearbeitete-grossbaustelle Während der Corona-Krise lag der Fokus viel zu spät auf Kindern und Jugendlichen – mit fatalen Folgen Die Schließung der Spielplätze dauerte in Bayern länger als die Unterbrechung der Bundesliga-Saison. Selbst im Juli noch dürfen Jugendliche im Park kein Picknick zusammen machen, mit Abstand dürfen sie zumindest gemeinschaftlich rumstehen. Während Erwachsene im Lockdown zumeist weiterhin für Arbeit und Einkauf die Wohnung verlassen konnten, blieben Kinder und Jugendliche wochenlang in ihren sozialen Kontakten auf die eigenen vier Wände beschränkt. „Ostern war schrecklich ohne dich und Opa, auch die Ferien waren schrecklich“, schreibt ein 10-jähriger Junge seinen Großeltern und gibt auch uns den Brief für die Kampagne „Raise Your Voice“. Welche Auswirkungen der Lockdown und die daran anschließende Phase der Lockerungen langfristig auf Kinder und Jugendliche haben, ist noch nicht abzusehen. Diese Lockerungen erfolgten im Übrigen mit höchst unterschiedlichen Geschwindigkeiten. „Verloren“ haben in die- ser langen Zeit aber unzweifelhaft junge Menschen. Es gibt Prognosen und es gibt die ersten – traurigen – Studienergebnisse. Die Gewalt gegen Kinder hat während der Pandemie deutlich zu- genommen. Die vom Bundesfamilienministerium initiierte Kinder- schutz-Hotline verzeichnet einen sprunghaften Anstieg der Anrufe. Auch bei den Jugendämtern steigen die Zahlen der Kinderschutzmel- dungen mit Ende des Lockdowns an. Ärzte wundern sich nicht über diesen Anstieg, da in Krisenzeiten die Gewalt in der Gesellschaft gegenüber den Schwächsten zunimmt. Deswegen kritisiert auch der Kinderärztepräsident den rein virologisch geleiteten Blick auf die Pandemie. Das dauerhafte Einsperren der Kinder führe zwangsläufig zu Konflikten in der Familie. 1 Junge Menschen fühlen sich einsam und das hat nichts mit ihrem Alter zu tun. Zu diesem Ergebnis kommt das Deutsche Jugendinstitut (DJI) in seiner Studie „Kind sein in den Zeiten von Corona“. Jeder dritte junge Mensch zwischen drei und 15 Jahren hat Schwierigkeiten, mit der Corona-Krise fertigzuwerden. Vor allem Kindergartenkinder und Einzelkinder fühlen sich einsam. Fachkräfte und Lehrkräfte helfen nicht, die Einsamkeit abzubauen, da digitale Kommunikationsformen von ihnen kaum genutzt werden. 2 Foto: Tho m as Gerlach, pixabay.de

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