| 02 | 2025 23 So ungerecht! Reduziert Ganztagsschule Bildungsungerechtigkeit? Nützt das was? Mit dem Auftrag, Partizipation in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit im KJR und darüber hinaus zu ermöglichen, stehen die pädagogischen Fachkräfte an der Basis oft vor Herausforderungen. Es ist nicht leicht, die OKJA-Besucher*innen – insbesondere Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus – zu motivieren, sich für ihre Anliegen und Interessen einzusetzen. Doch was liegt dem zugrunde? Was hindert diese jungen Menschen an gesellschaftlicher Teilhabe und Partizipation? Einen möglichen Grund dafür beschreibt Aladin El-Mafaalani in seinem Buch „Mythos Bildung1“. Er legt den Begriff des „Habitus“ (Bourdieu) zugrunde, der als Sozialisation in einem und durch ein Milieu verstanden werden kann. Der Habitus hat sowohl Einfluss auf die sozialen Hierarchien als auch auf das Selbst- und Weltbild der jungen Menschen. Der Habitus Großstädte entstehen, wo es in bestimmten Stadtteilen zu einer Konzentration von strukturellem Mangel an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital kommt.6 Ganztag als Lösung? Wie aber kann es im Kontext Ganztag gelingen, dieser Ungerechtigkeit entgegenzuwirken? Gerade wenn El-Mafaalani feststellt, dass das pädagogische Personal im deutschen Bildungssystem klassischerweise auf professionelle Distanz gepolt (ist).7 Bildungschancen entstehen aber gerade dann, wenn der Habitus der Kinder und Jugendlichen – unter günstigen sozialen Bedingungen – herausgefordert wird. Die Irritationen, die der Habitus auszulösen vermag, können genutzt werden um nicht nur Hemmungen und Schamgefühle abzubauen, sondern auch Kreativität und Experimentierfreude zu fördern8; wenn es den Kindern und Jugendlichen gut geht und sie sich wirklich wohlfühlen. Die Offene Kinder- und Jugendarbeit (OKJA) beispielsweise, deren Besucher*innen überwiegend aus sozial benachteiligten Milieus kommen, hat Möglichkeiten gefunden und Strategien entwickelt, die Ungleichheiten der sozialen Herkunft auszugleichen. Auf Basis der Anerkennung und Wertschätzung der Kinder und Jugendlichen und ihrer Themen schafft die OKJA verlässliche Beziehungsangebote als Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe, Partizipation und Bildung. OKJA ermöglicht die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und kann, in Ergänzung zu Schule, beim Ausgleich von Bildungsungerechtigkeit eine wesentliche Rolle einnehmen. Ganztagsschule ist allein aktuell kaum in der Lage, Bildungsungerechtigkeit zu reduzieren, denn es fehlt in erster Linie an aufmerksamen Erwachsenen, die Ressourcen haben, sich wirklich für die Kinder und Jugendlichen, für ihre Bedürfnisse, Fragen und Wünsche zu interessieren, unabhängig von ihrer sozialer Herkunft. Um diese zusätzlichen Aufgaben zu übernehmen und systematisch den Einfluss der Milieuzugehörigkeit zu verringern, brauchen Schulen eine deutlich bessere Ausstattung an multiprofessionellem Personal – beispielsweise indem Ganztagsschulen mit allen Bildungseinrichtungen kooperieren, die der Sozialraum bietet.9 Denn alle Kinder und Jugendlichen sollten Zugang zu Lernprozessen haben, in denen Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung entwickelt und entfaltet werden können und somit ihr „Habitus“, ihr Selbst- und Weltbild sowie ihre soziale Stellung veränderbar werden. MIRJAM KRANZMAIER, Jahrgang 1979 aus Schwäbisch Gmünd, Abschluss als Diplom-Sozialpädagogin an der Berufsakademie in Stuttgart, Fachstelle Partizipation beim KJR 1 Aladin El-Mafaalani: Mythos Bildung – Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft (5. aktualisierte Auflage 2023) 2 Vgl. El-Mafaalani S. 46-49 3 Vgl. El-Mafaalani S. 73 4 El-Mafaalani S. 73 5 Vgl. El-Mafaalani S. 74-75 6 Vgl. El-Mafaalani S. 92-93 7 Die Zeit, 16.01.2015, Interview Aladin El-Mafaalani »Der Staat kann nicht die Mütter ersetzen« 8 Vgl. El-Mafaalani, S. 47 9 Vgl. El-Mafaalani, S. 93 „Ali malt Tina lila an“ – Schule reproduziert nicht nur Ungerechtigkeit, sondern stellt diese auch her. Was sollen Jungen mit Migrationshintergrund über ihre Rolle in der Klasse hier lernen? ist dafür verantwortlich, die Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Milieu dauerhaft zu festigen. Situationen, in denen man sich nicht auskennt, führen demzufolge zu Unsicherheit und Unwohlsein, was wiederum Vermeidungsverhalten, Hemmungen und Scham hervorrufen kann. Die Intuition für das „richtige Verhalten“ fehlt.2 Dazu kommt, dass Kinder aus ärmeren Verhältnissen und mit formal geringer gebildeten Eltern im Durchschnitt weniger kompetent sind.3 „Der Abstand zu sozial privilegierten Kindern kann enorm sein.4“ Es stellt sich daher die Frage, ob mit Bildung dieser Ungleichheit etwas entgegengesetzt werden kann und ob Ganztagsschule den Herkunftseffekt ausgleichen kann? Zumal verschiedene Studien (IGLU, PISA, TIMUSS, LAU) belegen, dass die ohnehin benachteiligten Kinder bei der Notengebung und Schulformempfehlung strenger bewertet werden als Kinder mit einer höheren sozialen Herkunft. Kinder mit niedrigerem sozialen Status werden bei gleicher Kompetenz demnach deutlich seltener für ein Gymnasium empfohlen.5 Kinder und Jugendliche aus unteren sozialen Schichten sind im Schulkontext also doppelt benachteiligt. Die Verbindung zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist in Deutschland deutlich ausgeprägter als im internationalen Vergleich. Besonders gravierend sind jedoch die Unterschiede, die durch Segregation innerhalb der Foto aus Übungsheft 1. Klasse So ungerecht, dass … » … manche Lehrer sofort denken, dass wir es waren, wenn jemand in der Klasse Scheiße gebaut hat, obwohl es manchmal auch deutsche Kinder waren (zwei Jungs, 14) Schwerpunkt
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