| 02 | 2024 17 Gendersensible Jugendarbeit Schwerpunkt Fachstellen für Mädchen*- und Jungen*arbeit und LGBTIQA* Echt, immer noch!? Die Frage, ob Mädchen*- und Jungen*arbeit noch notwendig und sinnvoll sind, ist auch vor dem Hintergrund einer queersensiblen Jugendarbeit einfach zu beantworten: Ja! Ein Gespräch mit Katharina Fertl und Bernhard Rutzmoser. Nach so vielen Jahren geschlechtersensiblen Arbeit – wo bleibt der ganz große Aufschrei gegen dieses System? Bernhard: Diesen Aufschrei gibt es schon immer wieder. Andererseits dauern die Veränderungsprozesse unendlich lange. In Bezug auf Gleichberechtigung sind wir durchaus vorangekommen, wenn man den Vergleich zu den 1950er/1960er Jahre zieht. Und trotzdem bleibt es ein Prozess, an dem kontinuierlich gearbeitet und an den immer wieder erinnert werden muss. Wie reagieren die Betroffenen selbst? Katharina: Junge Menschen wissen oft nicht, dass sie strukturelle Benachteiligungen aufgrund des Geschlechts erfahren. Solche Situationen werden dann schnell als individuelles Scheitern betrachtet. Aktuelle Studien gehen davon aus, dass es bis zu einer tatsächlichen Gleichberechtigung noch bis zu 280 Jahre dauern wird – bei dem Tempo, das wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben. Die Kategorie „Geschlecht“ bleibt wirkmächtig, wie gravierend, habe ich selbst zum Teil erst durch meine Arbeit in der Fachstelle erkannt. Was bedeutet das für eure Arbeit? Bernhard: Unser Fokus lag schon immer – und liegt jetzt noch mehr – auf dem Aspekt Vielfalt mit Blick auf die Kategorie „Geschlecht“. Diese Vielfalt der Lebensentwürfe greifen wir in unserer Arbeit auf. Gleichzeitig befassen wir uns heute viel stärker mit der Medienpräsenz von „Geschlecht“. Noch einmal nachgefragt: Stehen euch bei der 18. Staffel von „Germany‘s next Topmodel“ nicht die Haare zu Berge? Katharina: Wir erleben hier eine Gleichzeitigkeit: Reproduktion von Rollenstereotypen und Reduzierung von Frauen* auf Äußerlichkeiten einerseits – Wissen und Reflexion vieler junger Menschen, dass solche Fernsehformate nicht die Normalität widerspiegeln andererseits. Dennoch: wenn ich immer wieder ultraschlanke Frauen* und supermuskulöse Männer* sehe, verzerrt das die Wahrnehmung und Akzeptanz von Körpern. Wie sieht denn eure praktische Arbeit aus? Katharina: Vor allem greifen wir verschiedene Möglichkeiten auf, um mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen, klassische Beziehungsarbeit ist wichtig. Das kann beispielsweise ein Thekengespräch in einer offenen Einrichtung sein. Wir greifen einerseits die Themen auf, mit denen die jungen Menschen kommen, setzen aber selbst auch Inhalte, um beispielsweise zur Dimension „Geschlecht“ zu arbeiten und Rollenstereotype aufzubrechen. Bernhard: Wichtig ist, dass wir in partizipativen Prozessen die Themen der Zielgruppe erfassen und denen dann einen Raum zur Bearbeitung geben, z.B. im Rahmen eines Thementags in der Einrichtung. Queersensible Jugendarbeit ist plötzlich in aller Munde; Konkurrenz zu euch? Katharina: Geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung waren auch schon immer unsere Themen. Ein lesbisches Mädchen* z.B. ist und war immer Adressatin* von Mädchen*arbeit. Es ist also nur folgerichtig, dass wir den Blick auf alle queeren Gruppen richten und Kritik an Heteronormativität üben. Grundsätzlich ist es wichtig, dass sich Jugendarbeit reflektiert für die LGBTIQA*-Communities als Teil ihrer Zielgruppe öffnet. Bernhard (links) und Katharina berichten, dass ihre bisherige Jungen*- und Mädchen*arbeit immer schon gendersensibel war – der Aspekt Queerness wird dabei weiter eine wichtige Rolle einnehmen Gibt es heute noch Benachteiligungen, die auf die Kategorie „Geschlecht“ zurückzuführen sind? Katharina: Der Gender Pay Gap – also der Unterschied im Bruttoverdienst zwischen Männern* und Frauen* – beträgt noch immer 18 Prozent! Selbst wenn man berücksichtigt, dass Frauen* oft in schlechter bezahlten Berufen oder in Teilzeit arbeiten, beträgt die Differenz sechs Prozent. Frauen* haben für Führungspositionen nach wie vor schlechtere Zugangschancen, unbezahlte Care-Arbeit ist ungleich verteilt, wir treffen an vielen Stellen weiter auf Sexismus und Sexualisierung von Frauen*körpern. Was weniger bekannt ist – Frauen werden in medizinischer Forschung weniger beachtet und Algorithmen sind zum Teil auch diskriminierend. Schließlich – an jedem Tag versucht in Deutschland ein Mann* eine Frau* zu töten … Sind auch Jungen* benachteiligt? Bernhard: Studien zeigen, dass Jungen* im Durchschnitt schlechtere Noten erzielen, häufiger ohne Abschluss die Schule verlassen und ihnen seltener der Wechsel aufs Gymnasium angeraten wird. Das liegt mitunter an Stereotypen von Männlichkeit, die eine Auswirkung auf Lerngewohnheiten und -verhalten haben. Diese stereotypen Männlichkeitsnormen wirken natürlich auch in vielen anderen Bereichen, z.B. dass Männer* weniger über Gefühle oder psychische Probleme sprechen, was zu einem erhöhten Risiko für psychische Erkrankungen führen kann. Die Lebenslagen von Mädchen* und Jungen* werden also nicht berücksichtigt? Katharina: Im schulischen System ist grundsätzlich wenig Platz für eine individuelle Betrachtung der Schüler*innen. Grundsätzlich wollen Kinder „gut“ sein, also auch „gute Jungen* und Mädchen*“. Wenn nun „geschlechtstypisches“ Verhalten erwartet und gelobt wird, verstärken sich dadurch Rollenstereotype und engen die Kinder in ihrer Entfaltung ein. Wie wichtig sind für dich spezielle Angebote „nur“ für Mädchen*? » Ich finde die Mädchen*angebote cool. Da kann man nur mit Mädchen* Ausflüge machen und Sachen basteln. (Mädchen*, 9)
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