| 05 | 2023 21 Radikal jung!? Schwerpunkt Etappen auf dem Weg zum Erwachsenwerden Die 3R-Formel: Raum – Richtung – Resonanz Als radikal muss man die Lebensphase junger Menschen zwischen ihrem 11. und 18. Lebensjahr bezeichnen. Daraus folgt nicht zwingend, dass diese Heranwachsenden radikal denken und handeln, meint Psychotherapeutin Sabine Finster. Ein Gespräch über eine herausfordernde Lebensphase. Egozentrismus ist aber Voraussetzung, um die Entwicklungsaufgaben auch nur ansatzweise zu bewältigen. Das Verhalten wird im Umfeld dieser jungen Menschen oft als Radikalität im Sinne von Ablehnung der gesamten Lebenswelt missverstanden. Je nach Disposition können in dieser Phase auch manifeste psychische Störungen auftreten. Corona hat uns gezeigt, wie fragil junge Menschen sind, wenn diese multiplen Krisen über sie hereinbrechen und keine adäquaten Lösungen zur Verfügung stehen. Normal hingegen ist jedoch eine Grundeinstellung der Jugendlichen, wonach sie mitunter radikal anmutend gegenüber Lehrkräften, Eltern oder andere Bezugspersonen sind, um zu bestehen. Das bedeutet auch, dass – unausgesprochen – diese Jugendlichen nach Sparringspartner*innen suchen, um ihre Gedanken und Gefühle kognitiv und emotional zu verifizieren bzw. zu validieren. Diese Phase kann nicht dadurch bearbeitet werden kann, indem man sie aussitzt? Genau. Diese Aufgaben müssen aktiv bearbeitet werden. Das fördert im positiven Sinne die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Kinder und Jugendliche, die diese Prozesse so nicht durchlaufen, kapitulieren auch als Erwachsene viel schneller vor Krisen. Die Kunst ist, in dieser Zeit die Balance zwischen einem Sich-ausleben-können und dem Bedürfnis nach Sicherheit zu finden. Alles in allem also keine unbeschwerte Zeit, als die Jugend oft verklärt wird. Wie hat sich diese Lebensphase historisch verändert? Ich glaube nicht, dass es große Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte gab. Jugend kann und soll trotz allem unbeschwert sein. Das hängt nicht zuletzt davon ab, welchen Rahmen die Kinder und Jugendlichen vorfinden. Bieten die primären Bindungspersonen beispielsweise Sicherheit und Anerkennung? Finden Heranwachsende einen sozialen Anker? Dann werden sie Vertrauen fassen und selbständig Neues entdecken wollen. Nachgefragt: Beobachten Sie heute ein zunehmendes Bedürfnis von Jugend nach Sicherheit und traditionellen Lebensentwürfen? Die mannigfachen Möglichkeiten der Lebensplanung überfordern junge Menschen durchaus. Das könnte in der Tat in eine Rückbesinnung auf Lebensentwürfe münden, wie sie die eigenen Eltern gelebt haben – sofern dieses Erleben positiv konnotiert ist. Gleichzeitig haben traditionelle Werte wie Treue, Freundschaft oder Verbindlichkeit ja weiter Konjunktur. Daraus schöpfen Kinder und Jugendliche ein für sie passendes Sicherheitsgefühl. In der Ausprägung des Auslebens der traditionellen Werte gibt es jedoch individuelle Varianten. Aktuell verunsichert die KI junge Menschen – sie fühlen sich ersetzbar. Eine berechtigte Angst? Wir können heute noch nicht absehen, in welchem Maße die KI unser Leben verändern wird. Ich würde aber auch in diesem Szenario auf die von Klaus Grawe beschriebenen Grundbedürfnisse zurückgreifen: Hier sehe ich vor allem das Bedürfnis nach Selbstwerterhöhung. Übersetzt bedeutet das für mich, dass Verunsicherung angesichts neuer Technologien völlig normal ist. Aber das Bedürfnis nach dem Erleben von Selbstwirksamkeit – also das Erleben seiner eigenen Kräfte zur Bewältigung von Krisen bzw. Herausforderungen – ist dem Menschen innewohnend. Er wird sich dieser Herausforderung stellen, weil er eben aus dieser KI etwas Neues schaffen will, die Aufgaben lösen, kreativ Was passiert in dieser Lebensphase? Sabine Finster: Etwa zwischen dem 11. und dem 18. Lebensjahr durchlaufen junge Menschen eine entscheidende Lebensphase: die Pubertät/ Adoleszenz. Allein schon hormontechnisch vollführt der Körper in dieser Zeit Purzelbäume. Dazu kommt der psychische Reifungsprozess. Die Herausforderung ist, dass das alles parallel und innerhalb recht kurzer Zeit passiert. Im Bereich der Persönlichkeitsbildung formen wir unsere Identität – in der Regel auch in Abgrenzung zu bekannten Bezugspersonen wie Eltern oder der Clique. Erste sexuelle Kontakte werden geknüpft, in der Schule stehen Entscheidungen an, die das spätere Leben maßgeblich beeinflussen werden. All das stellt einen ersten enormen transitorischen Einschnitt in der Biografie dar. Im Ergebnis dieser vielfältigen Entwicklungsaufgaben, die bearbeitet werden sollen, zeigt sich bei vielen jungen Menschen eine Überforderung mit diesen Umständen. Treten dann noch äußere Faktoren hinzu, die zusätzlich destabilisierend wirken – beispielsweise gesellschaftliche Krisen, Kriege oder eine Pandemie – scheinen die Heranwachsenden vor geradezu unlösbaren Aufgaben zu stehen. Verkennen Erwachsene diese Extremsituation? Diese radikalen Umbrüche bedingen mitunter ein radikales Verhalten. Radikalität würde ich aber als natürlichen Egozentrismus übersetzen. Die Welt dreht sich zwangsläufig nur um das Individuum selbst. Dieser Jung sein, wild sein, unsicher sein – das prägt vor allem das Alter junger Menschen zwischen 11 und 20 Jahren; gut, wenn es dann einen stützenden Rahmen gibt. Was bedeutet für dich Jungsein? » Ich möchte nicht älter werden. Ich habe jetzt viel Zeit für meine Freunde. (Junge, 15) Bild: Tony Tran auf Unslash
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