K3 No. 4 - September 2022

Dachzeile 30 das kommt | 04 | 2022 Alle(s) inklusiv!? Schwerpunk Alltagserfahrungen von Jugendlichen mit Behinderung – empirische Jugendstudie Barrieren erkennen und abbauen In der Jugendforschung in Deutschland steckt das Thema „Beteiligung von Jugendlichen mit Behinderung“ noch in den Kinderschuhen. Wie erleben diese Jugendlichen ihren Alltag? In welchen Bereichen stoßen sie auf Barrieren, die ihre Chancen auf soziale Teilhabe einschränken? Im Rahmen einer umfassenden Jugendstudie wurde nun zum ersten Mal eben diese Gruppe zu ihren Alltagserfahrungen befragt. Jugendliche mit Behinderung sind in erster Linie Jugendliche, so lautete der Leitsatz der Jugendstudie „Aufwachsen und Alltagserfahrungen von Jugendlichen mit Behinderung“, die das Deutsche Jugendinstitut (DJI) von 2018 bis 2022 im Auftrag der Baden-Württemberg Stiftung durchgeführt hat. Der Leitsatz mag zunächst einleuchten, aber bei diesen Jugendlichen wird das Merkmal der Beeinträchtigung oft so fokussiert, dass ihr Jugendlich-Sein droht übersehen zu werden. Und doch macht es etwas aus, jugendlich zu sein! Insgesamt haben über 2.700 Schüler*innen mit verschiedenen Formen von körperlicher, sensorischer, kognitiver und/oder emotional-sozialer Beeinträchtigung an der Befragung teilgenommen. Dem Leitsatz entsprechend haben sie Fragen zu den jugendrelevanten Themen Freizeit, Freundschaften, Erfahrungen von Autonomie und Lebenszufriedenheit beantwortet. Dieser Beitrag nimmt den übergreifenden Aspekt „Freiraum“ in den Blick und stellt zentrale Ergebnisse zusammen mit entsprechenden Handlungsempfehlungen vor. Auf genügend frei verfügbare Zeit achten Seit der Einführung der Ganztagsschule verfügen Jugendliche insgesamt über weniger unverplante Zeit am Nachmittag. Bei Jugendlichen mit Behinderung wird das Freizeitbudget oft von weiteren Faktoren eingeschränkt: So verbringen über 40 Prozent der befragten Jugendlichen den Nachmittag meistens in einem betreuten Setting (Schule, Hort, Nachmittagsbetreuung, heilpädagogischer Tagesstätte) und ein Drittel geht regelmäßig zu therapeutischen und/oder medizinischen Behandlungen. Außerdem berichtet ein Viertel der Befragten, die eine Förderschule besuchen, dass ihr Schulweg „zu lang“ ist. Durch volle Wochenpläne und Fahrten zwischen den Terminen verknappt sich die freie Zeit für spontane und selbstbestimmte Aktivitäten. So sagt ein Drittel der Befragten, dass sie zu wenig Freizeit mit Freundinnen* und Freunden* verbringen, und ein Fünftel hat zu wenig Freizeit für sich allein. Freie Zeit sollte als wichtige Ressource für Jugendliche anerkannt und es sollte je nach Wunsch, Bedarf und Möglichkeit nach Strategien zur Erschließung von Zeitfenstern gesucht werden, die Jugendliche spontan und selbstbestimmt gestalten können. Barrieren im öffentlichen Verkehr senken Zum Jugendlich-Sein gehört, den eigenen Erfahrungshorizont zu erweitern und schrittweise Selbständigkeit zu erlernen. Hierfür brauchen Jugendliche Zugang zu Orten und sozialen Kontexten, in denen sie neue Erfahrungen machen und sich ausprobieren können. Öffentliche Verkehrsmittel und insbesondere der ÖPNV spielen dabei eine zentrale Rolle. Etwa 60 Prozent der Befragten geben an, dass sie schon einmal ohne Begleitung von Erwachsenen mit dem ÖPNV gefahren sind, wobei vor allem Jugendliche mit eingeschränktem Sehvermögen, Jugendliche mit körperlichen und motorischen Beeinträchtigungen und Jugendliche mit geistigen Beeinträchtigungen deutlich seltener angeben, Angebote des ÖPNV ohne Begleitung genutzt zu haben. Damit auch diese Jugendlichen die vielen Gelegenheiten ergreifen können, die mit eigenständiger Mobilität einhergehen, müssen die für sie noch bestehenden Barrieren identifiziert und abgebaut werden. Dabei gilt es, sowohl die physische Zugänglichkeit durch Aufzüge und Rampen zu gewährleisten als auch nach kreativen Lösungen zu suchen, damit örtliche Verkehrsnetzwerke für Nutzer*innen mit kognitiven Beeinträchtigungen navigierbarer gestaltet werden (vgl. Tillmann 2015). Digitale Teilhabe als Bestandteil sozialer Teilhabe anerkennen Die Digitalisierung spielt mittlerweile in nahezu allen Lebensbereichen eine Rolle. Für die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen in Deutschland gehören Smartphones und der Austausch über soziale Medien längst zum Alltag (Feierabend et al. 2020). So hängt gesellschaftliche Teilhabe – vor allem unter Jugendlichen – heute auch vom Zugang zum Internet und von digitalen Kompetenzen ab. Es ist ein erfreulicher Befund, dass etwas mehr als 90 Prozent der Befragten ein eigenes Smartphone besitzen. Jugendliche mit geistigen Beeinträchtigungen und diejenigen, die in einem Wohnheim wohnen, geben dabei vergleichsweise seltener an, ein eigenes Smartphone zu haben. Auch sind die Aktivitäten, denen Jugendliche mit geistigen Beeinträchtigungen digital nachgehen, weniger vielfältig als bei den anderen Befragten. Zur Gewährleistung digitaler Inklusion wird es auf die Bemühungen und das Zusammenwirken verschiedener Akteurinnen* und Akteure* ankommen, wie z.B. Familie, Lehrkräfte, Fachkräfte in Wohneinrichtungen und auch Hard- und Software-Entwickler*innen. Um eventuelle Spannungen zwischen dem Streben von Jugendlichen nach digitalem Freiraum einerseits und ihrem Unterstützungsbedarf bzw. der Sorge um ihre digitale Sicherheit andererseits zu überwinden, könnten Lösungen in der Förderung der Medienkompetenz der Jugendlichen liegen. Inklusion mit einem diversitätssensiblen Blick voranbringen Die Studie macht deutlich, dass die Herausforderungen, vor denen Jugendliche mit Behinderung stehen, je nach Form der Beeinträchtigung unterschiedlich gelagert sind. In Bezug auf Autonomie und Selbstbestimmung stehen beispielsweise Jugendliche mit sogenannter geistiger Behinderung vor großen Herausforderungen; dagegen fallen Jugendliche mit emotionalen und sozialen Schwierigkeiten deswegen Die Studie ist im Mai dieses Jahres erschienen und kann kostenlos auf der Website des DJI heruntergeladen werden.

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