K3 No. 6 - Dezember 2021
Dachzeile 26 das kommt | 056 | 2021 Wahrheit & Wissen Schwerpunk siehst du das? Wie kommst du darauf? Habe ich dich richtig verstanden? Man hinterfragt Annahmen und Folgerungen, ist an Begründungen interessiert und überprüft anhand von Beispielen und Gegenbeispielen. Im philosophischen Gespräch nähert man sich also der Wahrheit an? Die „Wahrheit für den Moment“ ist oft das, was ein Kind braucht. Wenn man zusammensitzt und bestimmten Fragen nachgeht, muss man wis- sen, ob diese Fragen für Kinder eine Rolle spielen. Ein Beispiel: Wir fragen – ausgehend von einer Alltagssituation, ob Freundinnen* und Freunde* untereinander streiten dürfen oder was überhaupt ein guter Freund*, eine gute Freundin* ist. Über diese Ausgangsfrage kommen die Kinder schnell zu der Überlegung, dass es ja auch „schlechte Freun- dinnen* und Freunde*“ geben muss, wenn es gute gibt. Kann dann ein „schlechter Freund“ überhaupt ein Freund sein? Die Kinder treffen in diesem Prozess auf Widersprüche. Wie gehen Sie damit um? Ein Widerspruch ist nichts Schlimmes, im Gegenteil. Zu erleben, dass einander widersprechende Ansichten nebeneinander stehenbleiben können, ist eine der großen Chancen, die das Philosophieren bietet. Es geht nicht darum, recht zu haben bzw. zu bekommen. Wichtiger ist es, den Widerspruch zu verstehen. Oft entsteht erst aus einem Widerspruch der Weg zur eigentlichen Erkenntnis. Wenn wir mit Jugendlichen über Berufswege sprechen, philosophieren wir auch darüber, wer sie sind, was Arbeit für sie bedeutet, was ihnen im Leben wichtig ist. Gegensätzlichkeiten, die dabei zutage treten, helfen ihnen dabei, Entscheidungen zu treffen und verschaffen so Orientierung. Je nach Gesprächsverlauf kann es sich anbieten, gewonnene Erkennt- nisse zusammenzuführen und die gehörten Argumente zu ordnen. Ebenso wichtig sind aber die Erkenntnisse auf der Meta-Ebene, dass sich Wahrheiten ändern können oder es mehrere Wahrheiten gibt. Was nehmen Kinder konkret aus den Philosophier-Runden mit ? Zunächst einmal ihre eigenen Erkenntnisse und neue Verknüpfungen oder Begriffsklärungen. Dann die Erfahrung von Entschleunigung, von Zeit fürs Nachdenken und ein Gefühl für die Wichtigkeit von Fragen, auf die man die Antwort nicht nachschlagen kann. Eine weitere Erfahrung ist, dass man der Wahrheit leichter näherkommt, wenn man gemeinsam an einer Frage arbeitet und verschiedene Perspek- tiven einfließen lässt. Die Kinder merken, dass in solchen Gesprächen plötzlich Gedanken und Argumente auftauchen, auf die sie allein nie oder nur mühsam gekommen wären. Diskurs bedeutet Annäherung; das bleibt bei den Kindern hängen. Gehört das Philosophieren an Schulen? Wir sehen viele Anknüpfungspunkte inhaltlicher Art wie auch in der Förderung elementarer Kompetenzen. Das Philosophieren könnte dazu beitragen, Bildungsprozesse in der Schule einfacher, direkt und mit mehr Orientierung auf die Heranwachsenden zu gestalten, ohne dass das ein zusätzlicher Aufwand sein muss. Im Gegenteil: Die Verantwort- lichkeit für Lernen und Bildung rückt stärker auf die Schülerseite und verschafft den Lehrkräften Freiräume. Uns schwebt vor, das Philosophieren als Unterrichts- und Bildungsprin- zip an die Schulen zu bringen, nicht etwa als Unterrichtsfach, sondern als ein durchgängiges Element zur Schulung des Fragens und Denkens, zum bewussteren Umgang mit Begriffen und zur Wertebildung. Gibt es Erkenntnisse, wie sich philosophierende Kinder langfristig entwickeln? Es gibt dazu leider noch keine Langzeitstudien. Ich kann aber von einem Kollegen aus Hawaii berichten, der diese Technik seit vielen Jahren an einer Schule einsetzt. Wenn seine Schüler*innen die Schule wechseln Die Akademie für Philosophische Bildung und WerteDialog gibt es seit 2007. Vorläufer war die Bildungsinitiative „Kinder philosophieren“, die 2004 ins Leben gerufen wurde. Nach einer zweijährigen Pilotphase wurde das Projekt als „Akademie Kinder philosophieren“ in den bbw e.V. überführt. In den ersten Jahren bis 2009 wurde die Akademie von der vbw anschubfinanziert. Seit 2016 gehört sie zum Bereich Bildung und Kultur der Ge- sellschaft zur Förderung sozialer und beruflicher Integration (gfi gGmbH), unter dem Dach der bbw Gruppe. In den letzten 15 Jahren wurden 268 Basisausbildungen zur „Philosophischen Gesprächsführung“ durchgeführt und dabei etwa 9.400 pädagogische Fachkräfte bzw. gut 100.000 Kinder und Jugendliche erreicht. In der Berufsorientierung werden jährlich ca. 1.400 Jugendliche in rund 115 Workshops an ihren Schulen angesprochen. Im Fortbildungsbereich gibt es jährlich ca. 80 Schulungen mit 1.100 Teilnehmenden. Seit März 2020 konnten 176 Schulungen und Workshops mit insgesamt 2.832 Teilnehmenden online durchgeführt werden. und dort kein Angebot zum Philosophieren bekommen, berichten sie, dass ihnen eine wesentliche Stütze verlorengeht. Zurück zum Ausgangspunkt. Es geht also um das Wissen, dass andere Menschen auch eine Wahrheit haben, eigene Bedürfnisse und Haltungen … Man kann das Faktenwissen nicht ganz ausklammern, denn man tritt ja mit Vor-Wissen und Erfahrungen in philosophische Gespräche ein. Dieses Wissen wird ausgetauscht und ergänzt. Uns kommt es auf den Dreiklang von Wissen, Philosophieren und Handeln an. Zu Wissen und Wahrheit durch Philosophieren gelangt man in Etappen und nicht ohne eine Überprüfung des Verstandenen im Alltag. Was ist ihr „größerer Plan“ mit der Akademie? Im Moment folgen wir den Anfragen und Impulsen, die uns erreichen, sind aber gerade dabei, für uns zu unterscheiden, welche Felder und Bereiche für uns wesentlich sind. Wo wir die meisten Chancen und den größten Bedarf sehen. Und überall dort das Philosophieren in einer Weise erlebbar und erfahrbar zu machen, die es den Teilnehmenden ermöglicht, den großen Wert und die Wirksamkeit zu entdecken, die wir selbst seit vielen Jahren erfahren, das würden wir uns wünschen. Letztlich geht es immer um mehr Raum und Zeit für das Fragen und das Nachdenken; darum, sich auf fremde und ungewohnte Gedanken einzulassen – und um den Mut, das eigene Handeln und gesellschaftliche Konventionen zu hinterfragen. Interview: Marko Junghänel JULIA BLUM-LINKE, Jahrgang 1970 aus München, Lehramt Realschule, Studium Germanistik, Linguistik, Kunstpädagogik, heute Projektleitung und Trainerin der Akademie für Philo- sophische Bildung Die nächste zertifizierte Basisausbildung „Philosophieren in der Praxis“ startet im Februar 2022. Weitere Informationen: www.philosophische-bildung.de Wen fragst Du, wenn Du etwas wissen willst? » Ich frage den Chris. Und wenn er nicht erreichbar ist? Dann schreibe ich ihm eine WhatsApp. (Mädchen, 14)
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