K3 No. 6 - Dezember 2021
15 das kommt | 06 | 2021 das war 75 Jahre KJR aus Sicht der Leitungen von Freizeitstätten Ist damit die Frage der Qualität der Arbeit in den Einrichtungen verbunden? Benedikt: Die Lebensfragen von Kindern und Jugendlichen bleiben gleich. Wir leisten einen Beitrag dazu, dass es den Jugendlichen gut geht. Wer zu uns kommt, bekommt Hilfe und Angebote – diese Erkenntnis hat sich durchgesetzt. Stichwort Schule: Kinder sind heute viel stärker schulisch beansprucht als früher. Das ist der Grund, warum es jetzt weniger Besucher*innen bei uns gibt. Meiner Meinung nach dürfen wir aber keine Diskus- sion über Quantität führen, sondern darüber, wie die Qualität unserer Arbeit und Angebote zugenommen hat. Lernförderungen, ge- schlechtsspezifische Angebote, Nachhaltig- keit – das alles sind neue Themen, um die wir uns kümmern und die uns letztlich zu den er- wähnten informellen Bildungsorten machen. Ich denke also, dass wir nicht die Arbeit der Einrichtungen danach bewerten können, ob täglich 30 oder 100 Besucher*innen kommen, sondern danach, wie wir denen tatsächlich helfen, die zu uns kommen. Haben sich in diesem Sinne auch die An- sprüche der Eltern verändert? Benedikt: Unsere Einrichtungen sind oft Ersatz für Familien, die sich nicht optimal um ihre Kinder kümmern können oder wollen. Von den Eltern ist unsere Arbeit gewünscht – eine Ausweitung der Ansprüche kann ich nicht feststellen. Diese Ansprüche werden eher von den Geldgebern formuliert. Ulrike: Die Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen, stammen oft aus Familien mit Migrationserfahrung. Dort ist inzwischen auch sehr präsent, dass man in Deutschland eine gute Schul- und Berufsbildung braucht. Die Eltern projizieren diese Erwartungshal- tung häufig auf uns und fordern, dass wir dafür sorgen, dass ihre Kinder einen guten Schulabschluss bekommen. Das können und wollen wir aber nicht leisten – da steht vor allem die Schule in der Pflicht. Wir begleiten diesen Prozess aber gern mit unseren Ange- boten, wie z.B. der Hausaufgabenbetreuung für Grundschüler*innen. Es scheint so, dass Berufsanfänger*innen eine Freizeitstätte als weniger attraktiven Arbeitsplatz wahrnehmen. Der Nachwuchs ist knapp. Woran könnte das liegen? Ulrike: Es war immer schon schwer, passende Kolleginnen* und Kollegen* zu finden – im Dülfer sowieso. Das Hauptproblem ist zu- nehmend die Arbeitszeit in der Einrichtung, die viele junge Bewerber*innen abschreckt. Vielleicht müsste man auch andere Berufs- gruppen ansprechen – Erzieher*innen, Sport- lehrer*innen oder Heilpädagoginnen* bzw. Heilpädagogen*. Solche multidisziplinären Teams könnten für alle bereichernd sein. Benedikt: Die jüngere Generation ist in ihren Ansprüchen an Arbeit anders als wir es waren und fordert vor allem flexiblere Arbeitszeit- modelle. Unser großer Vorteil, eine größt- mögliche inhaltliche Gestaltungsfreiheit der Arbeit zu bieten, scheint nicht mehr allein zu ziehen. Die Frage der Work-Life-Balance rückt in den Mittelpunkt. Ich denke aber, dass der KJR hieran schon arbeitet. Ein Megatrend der Zukunft soll die Indi- vidualisierung sein. Wie sieht vor diesem Hintergrund eine Freizeitstätte in den kommenden Jahrzehnten aus? Ulrike: Diese Individualisierung kann ich tatsächlich beobachten: Jugendliche sitzen nebeneinander auf der Couch und schicken sich gegenseitig Kurznachrichten über ihr Smartphone. Das ist für mich völlig unver- ständlich. Andererseits werden Gruppen- sportarten nach wie vor gern angenommen. Ich mache mir schon Gedanken, wie die weitere Entwicklung verlaufen wird. Klar ist, dass das freie Zeitbudget der Kinder und Jugendlichen am Nachmittag kleiner wird. Warum könnte man den offenen Treff also nicht neu ausrichten – mehr Beratungs- angebote machen, Hilfen beim Ausfüllen von Formularen oder Bewerbungstrainings anbieten? Auch eine intensivierte Zusam- menarbeit mit älteren Generationen und Senioren kann ich mir vorstellen. Aus der Einrichtung könnte dann zeitweise ein Nachbarschaftsbüro werden. Benedikt: Menschen wollen Gemeinschaft, sie wollen gemeinsam Fußballspielen. In- sofern glaube ich nicht, dass wir uns völlig neu erfinden müssen. Was sich ändert, sind jedoch die politischen Rahmenbedingungen und wie sie die Lebenswelt der Kinder beein- flussen. Hier verstehe ich unsere Rolle auch künftig als „Anwälte der Kinder“, die lachen wollen, die sich austauschen wollen und dafür einen frei gestaltbaren Raum brauchen – eben die Freizeitstätten als Bildungs- und Begegnungsorte. Also keine Angst vor einer Zukunft ohne ‘s Dülfer oder den Zeugnerhof? Benedikt: Definitiv nicht! Ulrike: Ganz einfach geantwortet: Wie oft wurde schon behauptet, dass Jugendliche weder Billard noch Kicker wollen, sondern nur noch digitale Medien. Schauen wir uns um – Billard und Kicker gibt es weiterhin und wird gerne gespielt, beides ist offenbar unverzichtbar für Kinder und Jugendliche. Grundbedürfnisse von Gemeinschaft unter Gleichaltrigen und Selbstbestimmung wäh- rend der Freizeit sind scheinbar zeitlos. Interview: Marko Junghänel Benedikt Kämmerling Jahrgang 1983, geboren in Berchtesga- den, Studium Soziale Arbeit B.A., Leitung offene und schulbezogene Kinder und Ju- gendarbeit im Zeugnerhof (Berg am Laim)
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