K3 No. 5 - Oktober 2021

11 das kommt | 05 | 2021 das war 75 Jahre KJR aus Sicht von Besucherinnen* und Besuchern* der Freizeitstätten Habt ihr Hierarchien zwischen dem Team der Einrichtung und den Besucherinnen* und Besuchern* erlebt? Lisa: Ich glaube, dass die Teams ein Mindset haben, das sich stark an den Bedürfnissen der Jugendlichen orientiert. Zudem ist die Kommunikation zwischen allen wichtig. So schafft man es, dass man auf Augenhöhe miteinander ins Gespräch kommt, ohne dass sich die Leitungen anbiedern. Das Programm der Einrichtung ist ein Angebot, keine Ver- pflichtung. Gleichzeitig empfinde ich die Leitung einer Freizeitstätte als Vorbild. Anders gefragt: Sind die Freizeitstätten manchmal auch überpädagogisiert? Falko: Ich kann mich an das besagte Fotola- bor im Lerchenauer erinnern. Da hat man zu der damaligen Zeit recht viel Geld investiert, weil man glaubte, dass das etwas ist, was Jugendliche wollen und brauchen. Letztlich haben es aber nur wenige angenommen. Das heißt, dass man einen Kompromiss finden muss aus dem, was pädagogisch sinnvoll er- scheint, und dem, was Jugendliche wirklich wollen. Das bedeutet, offen zu sein für andere Formen und Angebote als die, die man sich als Pädagogin* bzw. Pädagoge* ausgedacht hat. Lisa: Im Biederstein sieht man das wunderbar am „School‘s over Jam“. Die Veranstaltung sollte nur einmal stattfinden. Die Resonanz unter den Jugendlichen war aber so groß, dass es nun regelmäßig angeboten wird. Man lässt also letztlich Jugendliche (mit-) entscheiden, welches Angebot es gibt. Falko: Der große Vorteil am KJR ist, dass die Geschäftsführung es ermöglicht, solche Angebote und Programme auszuprobieren – und auch mal eine Fehleinschätzung der Bedürfnisse akzeptiert. Was auch klar ist: Die Wünsche und Bedürfnisse der Jugendlichen wandeln sich im Laufe der Zeit. Selbst zur gleichen Zeit müssen diese Bedürfnisse nicht in allen Stadtteilen gleich sein. Lisa: Im Biederstein verfolge ich auch die Veränderung der Generationen von pädago- gischen Fachkräften und Besucherinnen* bzw. Besuchern*. Noch vor drei oder vier Jahren hat man vor allem auf HipHop und Breakdance bei der Musik gesetzt. Dann ka- men die Ersten, die die K-Pop-Szene ins Haus brachten, von der das Biederstein heute fast komplett geprägt ist. Inwiefern haben euch die Freizeitstätten sonst geprägt? Lisa: Bei mir ist es so, dass ich durch den Besuch in den Einrichtungen offener auf andere Menschen zugehen kann. Ich hatte am Anfang selbst ein wenig Angst, allein ins Biederstein zu gehen. Wenn jetzt neue Leute kommen, frage ich sie gleich, worauf sie Lust haben und was man zusammen unternehmen könnte. Falko: Das ging mir auch so. Außerdem bin ich überzeugt davon, dass die Jugendlichen in den Freizeitstätten lernen, Verantwortung zu übernehmen und an Selbstbewusstsein hinzugewinnen. Wie politisch sind eigentliche Freizeit- stätten? Lisa: Es gibt ein schönes Beispiel aus der letz- ten Zeit. Anlässlich des „Day of the Girl“ gab es eine Podiumsdiskussion im Biederstein. An diesem Tag geht es um Sexismus, Rassismus, Bildungsgleichheit und die Abschaffung der Zwangsehe. Bei der Veranstaltung haben wir über diese Aspekte, aber auch über viele weitere Themen gesprochen. Es wurden persönliche Erfahrungen ausgetauscht, die von Alltagssexismus bis zu Belästigungen reichten. Ein sehr politischer Abend, der völlig unaufgeregt und fair verlaufen ist. Falko: Die Freizeitstätten waren in den 1970er Jahren in der Politik als „linke Keim- zelle“ verschrien. Ich erinnere mich, dass der eigentliche politische Protest – zum Beispiel gegen das Hochschulrahmenkonzept – aber nicht von den Freizeitstätten ausging. In den Einrichtungen ging es um viel konkretere und naheliegendere Probleme als um Pershing II und Nato-Doppelbeschluss. Ich erinnere mich beispielsweise, dass wir damals das Thema häusliche Gewalt aufgegriffen haben, weil es da offenbar enorme Probleme gab. Zukunftsforscher sprechen von einem „Megatrend Individualisierung“. Haben vor diesem Hintergrund Freizeitstätten überhaupt noch eine Perspektive? Lisa: Freizeitstätten sind unbedingt ein Modell für die Zukunft, weil dort wichtige Kulturarbeit und die Diskussion über soziale Themen stattfinden. Wenn die Einrichtungen so wandlungsfähig wie bisher bleiben, sind sie weiterhin ein gutes Konzept für Jugend- liche. Sie finden dort Kontakte, lernen, sich für andere einzusetzen und merken, dass sie etwas bewirken können. Falko: Sich real und nicht nur virtuell zu treffen, wird auch in Zukunft unverzichtbar sein. Ich glaube, dass die Freizeitstätten ein bewährtes Mittel sind und bleiben, Menschen unterschiedlichster Herkunft zusammen- zubringen. Auch wenn das sehr pathetisch klingt – daraus entsteht Gemeinwohl. Diese Einrichtungen sind unverzichtbare Säulen unserer Gesellschaft. Und das Argument der Besuchszahlen, die vielleicht zu gering sind, gilt nicht. Wenn nur 20 Kinder und Jugendli- che kommen, sind es vielleicht gerade diese 20, die das Angebot dringend brauchen. Das lohnt doch in jedem Fall. Interview: Marko Junghänel der Zeiten Falko v. Schweinitz Jahrgang 1956, geboren in Pähl/Weilheim, Studium der Kommunikationswissenschaft M.A. an der LMU, 1987 Mitbegründer von Tollwood, 1998 Gründung von Fa-Ro Marketing

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