K3 No. 4 - September 2021
11 das kommt | 04 | 2021 das war 75 Jahre KJR aus Sicht der Kommunalpolitik Aufgabe von Jugendpolitik, Kindern und Jugendlichen diese Ängste zu nehmen und ihnen Selbstbewusstsein zu vermitteln. … Angst vielleicht auch, sich diese Stadt bald nicht mehr leisten zu können? Dietl: Unsere Zeit ist von Unsicherheit geprägt, weil die Dinge nicht mehr über- schaubar sind. Die Globalisierung hat zu viele Optionen geschaffen, von denen jede für sich unsicher sein kann. Unsere Aufgabe ist es, Angebote zu machen, um diese Orien- tierungslosigkeit aufzulösen. Burkert: Die vielen prekären Arbeitsverhält- nisse mit endlosen Praktika und befristeten Arbeitsverhältnissen sorgen für brüchige Biografien und Unsicherheit. Hier kommt den Freizeitstätten des KJR eine zusätzliche Bedeutung zu: Orientierung bieten, Kontakte finden und sich austauschen können. Wie haben Sie den KJR als politische Kraft wahrgenommen? Dietl: Jugendliche beschäftigen viele prak- tische Themen. Ich erlebe das beispielsweise bei der Frage von Mobi l ität. Zudem ist bezahlbares Wohnen wichtig. Das Gute am KJR ist, dass er für die Politik das übersetzt und einfordert, was Kinder und Jugendli- che brauchen und selbst artikulieren. So gelangen diese Positionen ungefiltert in den Stadtrat. Burkert: Ich erinnere mich an das erste Kin- derparlament in München. Die Kolleginnen und Kollegen fürchteten, dass die Kinder fordern würden, die Schule abzuschaffen und kostenlos Eis zu verteilen. Aber es kam anders: Ein Kind sagte zu mir: „Frau Bürger- meisterin, machen Sie bitte, dass von den Bäumen nicht mehr die Äste abgeschnitten werden!“ Wir haben damals aus versiche- rungstechnischen Gründen die Bäume enta- stet. Die Kinder wollten etwas anderes, und so hat sich Dank ihres Einsatzes auch vieles verbessert. Hand aufs Herz: Haben Sie selbst manch- mal die politische Mündigkeit von Kindern und Jugendlichen unterschätzt? Dietl: Erwachsene denken oft, dass Kinder nicht das politische Gesamtbild im Kopf haben (können), wenn sie ihre Bedürfnisse artikulieren. Neulich bekam ich einen Brief mit Geld darin. Ein Kind schrieb, dass ich damit Mülleimer anschaffen soll. Natürlich habe ich das Geld zurückgegeben – die Geschichte ist aber Beweis dafür, dass sich Kinder um ihre Umgebung kümmern und etwas verändern wollen. Eine ganz andere Frage. Ist der KJR nicht doch manchmal nur ein hilfreicher Dienst- leister für die Stadt? Burkert: Der KJR war und ist politisch viel zu stark, um sich durch die Stadt als reiner Dienstleister vereinnahmen zu lassen. Wir können die Fragen nur partnerschaftlich lö- sen und zusammenarbeiten. Nehmen wir die Ganztagsbetreuung oder Kindertagestätten. Der Stadtrat wäre bei solchen komplexen Fra- gen manchmal schlicht überfordert, wenn es nicht den fachlichen Input des KJR gäbe. Es ist also nur vernünftig, mit dem KJR gleich- berechtigt zu arbeiten, auch wenn der oft ein wirklich harter Verhandlungspartner ist. In naher Zukunft könnte trotz allemWohl- wollen der Stadt ein ähnliches Szenario drohen wie in den Nuller-Jahren: Massive Kürzungen im Sozialhaushalt und damit Einsparungen beim Jugendring. Oder ist dieser Bereich nun völlig sicher vor sol- chen Sparrunden? Burkert: In den 1990er Jahren sollte jedes Referat einen bestimmten Prozentsatz seines Haushalts einsparen. Ich war für Soziales und die Schulen zuständig. Wir haben zunächst den Juristinnen und Juristen klarmachen müssen, dass man nicht nach Belieben den Lehrplan ausdünnen oder die Zahl der Kinder in den Schulklassen verdoppeln kann. Verena Dietl Jahrgang 1980 aus München Studium der Sozialen Arbeit, tätig in der Altenpflege, Jugendarbeit und Migrati- onsberatung, 2012 bis Mai 2020 Ge- schäftsführerin bei einem sozialen Verein 2002 bis 2020 Mitglied im Bezirksaus- schuss Laim, seit 2008 Stadträtin, 2016 bis 2019 stellvertretende Vorsitzende der SPD im Münchner Rathaus, seit 2018 stellvertretende Vorsitzende der SPD München, 2019 bis 2020 Fraktionsvor- sitzende der SPD im Münchner Rathaus, im Mai 2020 zur Dritten Bürgermeisterin gewählt, zuständig für Sozialausschuss, Kinder- und Jugendhilfeausschuss, Ge- sundheitsausschuss, Bildungsausschuss, Sportausschuss und Kommunalausschuss und immer zum Wohle Jugendliche. Dabei haben die Jüngeren an uns herangetragen, dass es darum geht, Lerndefizite auszugleichen und die soziale Isolation aufzubrechen. Wir werden uns zu dem Thema jetzt regelmäßig austauschen und nach Lösungen suchen. Burkert: Corona hat viele soziale Probleme verschärft, zum Beispiel die Angst. Ich spüre das seit vielen Jahren, dass die Angst vor der Zukunft unter Heranwachsenden wächst: Angst vor der beruflichen Zukunft, die unsicher ist; Angst, nicht in dieser von Konkurrenz geprägten Gesellschaft bestehen zu können. Ich halte es für eine zentrale
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