K3 No. 6 - November 2020
8 das kommt | 06 | 2020 das war Ein Überlebender des 9. November 1938 engagiert sich für Demokratie und Gerechtigkeit Der 9. November ist in der deutschen Hi- storie zumweltgeschichtlich bedeutsamen Tag geworden. Wie hat Sie insbesondere der 9.11.1938 geprägt? Ernst Grube: Ich war damals knapp sechs Jahre alt. Am 7. November 1938 mussten unsere Eltern mich und meine beiden Ge- schwister in das jüdische Kinderheim in Schwabing bringen, weil unsere Familie aus unserer Wohnung vertrieben wurde. Meine Mutter war Jüdin – mein Vater nicht; wir haben damals in einem Haus gewohnt, das der jüdischen Gemeinde gehörte und das in unmittelbarer Nähe zur Alten Hauptsynagoge in der Herzog-Max-Straße lag. Die Synagoge wurde bereits im Juni 1938 von den Nazis zerstört; dieses Ereignis hat wohl meine Entwicklung bestimmt. Wir sollten unsere Wohnung verlassen, weil der Besitz der jüdischen Gemeinde geraubt, „arisiert“ wurde. Für mich war das deshalb ein einschneidendes Erlebnis, weil allen Mietern gekündigt wurde. Mein Vater weigerte sich aber, die Wohnung zu verlassen. In den fol- genden vier Monaten wohnte unsere Familie deshalb ganz allein und isoliert im Haus. Zu diesem Zeitpunkt – am Vorabend des 9. No- vember 1938 – setzt die bewusste Erinnerung an meine Kindheit ein. Der Beginn einer Politisierung, die bis heute anhält? Ganz sicher, vor allem deshalb, weil unsere Familie zerrissen wurde, als wir in das Kin- derheim kamen. Ich habe später dort erleben müssen, wie fast alle Kinder in Vernichtungs- lager deportiert wurden. Diese Erfahrung von Ungerechtigkeit und Gewalt ist bis heute das zentrale Motiv meiner Arbeit. Aber ich wurde natürlich auch durch meinen Vater geprägt. Er war Kommunist – durch ihn war ich schon einbezogen, beispielsweise hörten die Eltern Radio Moskau und BBC. Nach der Befreiung Deutschlands vom Naziregime kamen viele persönliche Begegnungen mit ehemaligen politischen Gefangenen und jüdischen Über- lebenden des Krieges und der Lager hinzu. Von deren Erlebnissen habe ich schon früh erfahren und versucht, diese zu verarbeiten. Und es gibt einen dritten Punkt, der zu meiner Politisierung beigetragen hat. Die Regierung Adenauer veranstaltete in den 1950er Jahren eine regelrechte Hexenjagd gegen alle, die sie als Linke und Kommunisten Es ist passiert, also kann es wieder Ernst Grube ist unermüdlich, wenn es um die Erinnerung an die Verbrechen des NS-Regimes und den Einsatz für Frieden und De- mokratie, für Aufklärung und Befördern von politischer Bildung geht. Er selbst wurde schon als Kind einer jüdischen Mutter mit Gewalt und Erniedrigung konfrontiert. Das wirkt bis heute Der 9. November 1938 und der 9. November 1989 lassen sich in ihren Dimensionen und Folgen nicht vergleichen. Aber beide Daten stehen für Wendepunkte in der deut- schen Geschichte. Dieser Novembertag scheint in jedem Fall schicksalshaft für die Deutschen zu sein. Wir haben Zeitzeugen und deren Nachkommen gebeten, ihre Erinne- rungen an diesen Tag – Pogromnacht einerseits und Mau- erfall andererseits – mit uns zu teilen. Herausgekommen sind spannende Geschichten und unverstellte Rückblicke. Unstrittig für alle ist, dass der 9. November Anlass, Be- gründung und Verpflichtung zu politischer Bildung ist. betrachtete. Man muss sich das so vorstellen, dass zunächst politisch Unbelastete durch die Besatzungsmächte in Verwaltungsstellen oder als Bürgermeister eingesetzt wurden. Es dauerte jedoch nicht lange, bis man sie wieder absetzte. Das war der Moment, in dem ich dachte: Das darf doch nicht sein; man Foto: Bernd Scheumann, pixabay.de
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