K3 No. 6 - September 2019
| 06 | 2019 29 Gedenkarbeit und Frieden Schwerpunkt Zeitzeugen persönlich zu sprechen. Wir haben Gedenkstätten und Dokumentationszentren, Initiativen und Einrichtungen historischer und politischer Bildung, die uns vielfältige Möglichkeiten bieten, uns den Schicksalen der Opfer und den Folgen nationalsozialistischer Ideologie zu nähern. Wir sollten sie nutzen und verteidigen – gegen alle Widerstände und „Schuldkult-Parolen“. Es geht darum, den für junge Generationen enormen zeitgeschicht- lichen Abstand zur Nazi-Herrschaft, der sich mitunter in Äußerungen wie „was geht mich das heute an“ zeigt, inhaltlich in die heutige Zeit zu überführen. Es geht darum, bei Heranwachsenden das Bewusstsein für die Fragilität unserer demokratischen Gesellschaft, unserer Zivilisation und für aktuelle Gefährdungen zu schaffen. Was also bedeutet „Erinnern“? Dazu brauchen wir weniger Rituale, die die Parameter des Erinnerns und Gedenkens vorgeben. Wir müssen vielmehr jungen Generationen die Chance und den Raum geben, Vergangenes mit ihrer Lebens- wirklichkeit zu verbinden, neue Fragen zu stellen und neue Formen des Erinnerns entwickeln. Das schließt die kritische Betrachtung unserer heutigen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein und geschieht bei den Jungen eigentlich automatisch. Sie haben ein feines Gespür dafür, dass das Plädoyer „Nie wieder“ aktuell mit einem „Schon wieder“ konfrontiert ist. Unrecht, Ausgrenzung und Gleichgültigkeit sind wieder Teile des gesellschaftlichen Alltags und reichen bis zu Gewalt und Terror. Die Journalistin Mirna Funk plädiert in der Online-Ausgabe der ZEIT dafür, Erinnerungskultur so zu gestalten, „… dass Erinnern nicht nervt, sondern einen etwas lehrt. Dass Erinnern einen emotional erreicht und nicht emotional zur Abwehr zwingt. Dass Erinnern auch lebensorien- tiert und nicht ausschließlich leichenbasiert ist. Dass Erinnern Spaß macht, auch wenn es möglicherweise sehr wehtut.“* Der Besuch einer KZ-Gedenkstätte genüge nicht, ohne dass gleichzeitig Kontakte zu dem vielfältigen, lebendigen und reichhaltigen Leben jüdischer und anderer Kulturen geknüpft und unterschiedliche Lebensweisen kennengelernt werden können. Und ergänzend: Es darf jungen Menschen durchaus zugetraut werden, historische und politische Bildung wie das Erinnern und Gedenken mitzugestalten, noch besser, es selbst in die Hand zu nehmen, ihren Fragen und Themen entsprechend. Die Jugendgeschichtswerkstatt Sommer.dok des Kreisjugendring München-Stadt ist ein Beispiel für selbstorganisierte außerschulische Bildung, die Vergangenes mit Gegenwärtigem verbindet. Entdeckendes und interaktives Lernen sowie eine lebendige Erinnerung finden aber auch in der Schule Platz. Das Engagement vieler Lehrerinnen und Lehrer belegt das eindrucksvoll. Solche Ansätze sind auszubauen. Junge Menschen müssen in diesem Prozess so beteiligt werden, dass Erinnerung für sie zu einem Wert wird, für den sie sich verantwortlich fühlen. So kann „Erinnern auch cool sein“. Sylvia Holhut, Fachbereich Demokratische Jugendbildung, KJR Friedenspädagogik in Theorie und Praxis „Frieden macht man nicht allein“ Kann man „Frieden“ lernen? Natürlich, sagt das Team der Ar- beitsgemeinschaft Friedenspädagogik (AGFP) und betrachtet ein gewaltfreies Miteinander, faire Konfliktaustragung, Toleranz und Solidarität als innergesellschaftliche und globale Aufgabe. Wenn der stellvertretende Ministerpräsident „Messer für Anstän- dige“ fordert, welche Botschaft geht davon aus? Christoph: Es bleibt unklar, was seiner Ansicht nach „anständige Bürger“ ausmacht. Er setzt die Begriffe „anständige Bürger“ und „Messerbesitz“ in ein Verhältnis, das er nicht erklärt. In Zeiten von rechtspopulistischen Verbalentgleisungen, die von „Messer-Migration“ sprechen, entwickelt eine solche Forderung eine fatale Dynamik. Robert: Bei Kindern und Jugendlichen kommt unter Umständen an, dass Frieden nur durch Abschreckung möglich sei. Man kann sich selbst und seine Freunde nur dadurch verteidigen, indem man potenziell Gewalt ausübt. Die Welt scheint voller Egomanen. Wie kommt die Friedenspäda- gogik dagegen an? Christoph: Friedenspädagogik hat kein Problem mit Konflikten an sich. Konflikte sind Zeichen demokratischer Aushandlungsprozesse. Übrigens glauben wir nicht, dass die Welt vor allem aus Egomanen besteht. Die sind nur leider viel lauter und präsenter. In neoliberal geprägten Ge- sellschaften wie unserer wird Lautstärke im gesellschaftlichen Diskurs mit Macht übersetzt. Robert: Übersetzen wir das Ganze auf eine persönliche Ebene. Wenn sich Schülerinnen und Schüler gegenseitig mobben, bedeutet das, dass die „Lauten“ und vermeintlich Starken das Geschehen in der Klasse dominieren. Die stumme Mehrheit befördert durch ihr Schweigen die Dominanz der scheinbar Mächtigen. Dieses Phänomen kann man auch auf einen größeren Rahmen übertragen. In der friedenspädagogischen Bearbeitung fragen wir danach, wie diese Mehrheit ihren Raum zu- rückgewinnen kann. Wie muss man sich Ihre Arbeit konkret vorstellen? Robert: Wir arbeiten in zwei Handlungsfeldern – Gewaltprävention und demokratische Bildung. In den Konzepten zur Gewaltprävention wird die Frage formuliert, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler benötigen, um Verschiedenheit von Meinungen und daraus erwachsende Konflikte erkennen, aushalten und bearbeiten zu können. Pädagogische Teams denken dagegen oft, sie müssten die Konflikte auflösen oder zumindest unter Kontrolle bringen. Es geht aber darum, die Heranwach- senden zu Akteuren in der Gestaltung von Gemeinschaft zu machen. Christoph: Wenn man Konflikte komplett verhindern wollte, würde das eine gänzlich unpolitische Welt nach sich ziehen, weil es ja keine Diskurse mehr gibt. Das widerspricht nicht nur der Realität, sondern vor allem unserer Vorstellung von Bildung, die entlang von Aushandlungs- prozessen und offenen Fragen geschieht. Frieden – in der Klasse – ist nicht dann, wenn Kinder und Jugendliche keine Fragen mehr stellen … Was bedeutet dann Frieden? Christoph: Die Menschen haben unterschiedliche Perspektiven auf den Begriff. Lehrerinnen und Lehrer sehen Frieden schon darin, dass sich die Schülerinnen und Schüler nicht gegenseitig das Leben schwermachen. Für viele Kinder und Jugendliche kann Frieden bedeuten, nicht wegen ihrer Hautfarbe angesprochen oder benachteiligt zu werden. Frieden ist für mich … … harmonisches Beisammensein. Freddi, 16 * Mirna Funk in ZEIT online, 26.01.2018: https://blog.zeit.de/ freitext/2018/01/26/holocaust-ns-zeit-erinnerungskultur
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