K3 No. 5 - September 2019
Dachzeile 34 das kommt | 05 | 2019 Entwicklungsaufgaben Schwerpunk Verselbständigung junger Menschen in Zeiten von Wohnungsnot Hotel Mama oder von Couch zu Couch Seit Ende 2014 berät und unterstützt das Jugendinformationszen- trum München (JIZ) ganz offiziell und im städtischen Auftrag junge Menschen bei der Suche nach bezahlbarem Wohnraum. So schnell geht’s. Ich bin mit meinen 28 Jahren nun auch schon zu einer „Erwachsenen“ geworden, konnte auf dem Weg dahin in meinem Verband so viel lernen und unheimlich viel Verantwortung übernehmen; zur Zeit als dessen Vorsitzende. Dank dieser Möglichkeit zur Partizi- pation können wir zu mündigen und selbstbewussten Christinnen und Christen heranwachsen, die sich trauen, für ihre Werte einzustehen und Verantwortung für sich, ihre Mitmenschen und die Welt zu übernehmen. Alexandra Wilde, Evangelische Jugend München Wenn gar nichts anderes geht, sind Jugendliche immer häufiger gezwungen, bei ihren Eltern wohnen zu bleiben. Welche Chancen und Möglichkeiten haben junge Erwachsene, um in München unterzukommen? Wie könnten Ansätze zur Linderung der Wohnungsnot speziell für diese Zielgruppe aussehen? Und was bedeutet diese Situation für die Entwicklung von Heranwachsenden? Die Erfahrungen im JIZ zeigen, dass aufgrund des knappen und teuren Wohnraums die Abhängigkeit vieler Jugendlicher von ihren Eltern zugenommen hat. Wer nicht auf familiären Wohnraum zurückgreifen kann (oder will), nutzt entweder temporäre Schlafgelegenheiten im Freundeskreis („Couchsurfen“) oder ist auf kommunale Unterstützung (Jugendhilfe oder Wohnungslosenhilfe) angewiesen. Die Anzahl der Beratungsfälle im JIZ ist stetig steigend und hat sich von 2015 bis 2018 von etwa 200 auf rund 370 Ratsuchende nahezu verdoppelt. Es wenden sich vorwiegend junge Erwachsene zwischen 18 und 26 Jahren an das JIZ. Praktisch alle Anfragenden suchen nach einer bezahlbaren Unterkunft. Jede zweite Person ist bereits woh- nungslos oder akut davon bedroht. Wer sich dann unter Umständen im Wohnungslosensystem wiederfindet, muss sich in der Regel ein Zimmer mit mehreren Wohnungslosen teilen, findet dort nur wenig Ruhe, um sich auf Schule oder Ausbildung zu konzentrieren. Junge Menschen und freier Wohnungsmarkt Selbst wenn die hohen Mieten finanziert werden könnten, sind Ju- gendliche auf dem Wohnungsmarkt per se benachteiligt. Ihnen werden beispielsweise mangelnde Zuverlässigkeit hinsichtlich Mietzahlung, kein langfristiges Mietinteresse oder ständige Ruhestörung durch Partys unterstellt. Notgedrungen verschieben deshalb viele junge Menschen ihren Auszugstermin aus der elterlichen Wohnung. Die hohen Mieten sind inzwischen auch auf dem WG-Markt angekommen und liegen aktuell bei ungefähr 600 Euro pro Monat und Zimmer. Wohnheimzimmer sind mit etwa 250 Euro Miete pro Monat deutlich günstiger und entsprechend begehrt. Leider übersteigt die Nachfrage das Angebot um ein Vielfaches. Viele Wohnheime nehmen deshalb keine Interessenten auf, deren Eltern innerhalb des MVV-Bereichs wohnen. Neben Jugendwohnheimen für volljährige Schülerinnen und Schüler bzw. Auszubildende gibt es Häuser für Minderjährige. Diese rechnen meist zu einem relativ hohen Tagessatz von 27 Euro ab. Darin enthalten sind Frühstück und Abendessen sowie eine pädagogische Unterstützung und Freizeitangebote. In München gemeldete Personen können sich darüber hinaus beim Amt für Wohnen und Migration für eine sozial geförderte Wohnung registrieren lassen. Den inzwischen rund 30.000 Anträgen jährlich stehen nur etwa 3.000 frei werdende Wohnungen gegenüber. Konsequenzen für die Entwicklung Heranwachsender Es wird gern und in schöner Regelmäßigkeit beklagt, dass junge Menschen heute bis ins Erwachsenenalter hinein bei ihren Eltern leben und aus Bequemlichkeit nicht ausziehen wollen. Zumindest in München ist das Nesthocker-Syndrom jedoch nicht selten reinen Kostengründen geschuldet: Längere Ausbildungszeiten, extrem hohe Mieten und viel zu wenig an die Bedürfnisse junger Mieterinnen und Mieter angepasster Wohnraum (z.B. für Wohngemeinschaften) lassen den Auszug aus der elterlichen Wohnung für viele zur Utopie werden. Auch wenn laut der Shell Studie von 2010 mehr als 90 Prozent der Jugendlichen ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern haben und mit de- ren Erziehungsmethoden überwiegend einverstanden sind, entstehen durch das subjektiv von den Eltern als überfällig wahrgenommene Flüggewerden ihrer Kinder erhebliche Spannungen in den Familien. Die Verallgemeinerung, dass „die Jugend“ aus reiner Bequemlichkeit im „Hotel Mama“ bliebe, gilt daher nur bedingt. Eher sind es wirt- schaftliche Notlagen, aufgrund derer die Generationen zwangsläufig aufeinander hocken und nur schwer aus der beengten Wohnsituation ausbrechen können. Prinzipiell bedeutet das eine Entwicklungsverzögerung, für die die Wissenschaft das Schlagwort der „Adoleszenz-Verspätung“ gefunden hat. Betroffene Jugendliche bzw. junge Erwachsene können die fol- genden Eigenheiten aufweisen: n verzögerte sexuelle Entwicklung n geringe Selbständigkeit n Freundeskreis, der oft deutlich jünger ist als man selbst Aus der elterlichen Wohnung ziehen viele junge Erwachsene erst dann aus, wenn sie eine längere Paarbeziehung aufgenommen haben. In gewisser Weise setzen sie damit allerdings das enge Familienleben, das sie bis dahin gewohnt waren, nahtlos fort. Insofern ist aus unserer Sicht vielen jungen Menschen anzuraten, einfach mal in die „weite Welt“ hinauszuziehen – und ihre Ausbil- dungsperspektive nicht nur in München zu suchen. Man mag es kaum glauben: Aber woanders ist es auch ganz schön … Stephan Hadrava, Michael Graber, Jugendinformationszentrum, KJR Foto: Gerd Alt mann , Pixabay.com
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