K3 No. 4 - Juli 2019

| 04 | 2019 29 Aufwachsen unter Druck Schwerpunkt Nach den Gesetzesänderungen der letzten Monate führt die Angst vor Abschiebung oft wieder zu Re-Traumatisierungen bei jungen Geflüchteten. Junge Geflüchtete geraten mehrfach unter Druck Die Krise als Normalzustand Neulich meldete sich ein junger Mann, nennen wir ihn Arif, zur Therapie bei Refugio München an. Er ist 22 Jahre alt, stammt aus dem Irak und ist sportlich gekleidet. einschätzen können, was ihnen droht. Auch die Flucht selbst birgt viele Gefahren: weitere Überfälle, Vergewaltigungen, Geiselnahmen, Trennung oder Verlust von Angehörigen. Die Ungewissheit dauert oft Monate und Jahre: wann und wo wird Ruhe einkehren? Kinder brauchen die Gewissheit, dass ihre Eltern sie beschützen. Aber im Krieg und auf der Flucht gibt es keine Gewissheit. Eltern können ihre Kinder nicht schützen. Und oft können die Eltern selbst nicht mehr sprechen, weil sie verzweifelt sind und nicht wissen, wie es weitergeht. Die Kinder und Jugendlichen bleiben mit ihrer Angst allein. Viele Kinder berichten, dass sie sich nicht mehr trauten, ihren Eltern ihre Ängste zu zeigen, denn die Eltern seien ja selbst verzweifelt genug. Warum erhielt Arif nicht schon als Kind bei der Ankunft in Deutschland psychologische Hilfe, um seine schlimmen Erfahrungen zu verarbeiten? Dafür gibt es mehrere Gründe: n Die Lebensbedingungen für Asylsuchende sind restriktiv. Das Leben in sogenannten Ankerzentren oder Gemeinschaftsunterkünften ist an sich belastend. Zu Recht wird immer wieder darauf hingewiesen, dass solche Großunterkünfte kindeswohlgefährdend sind. Eine Jugendamtsleiterin sagte: „Eigentlich müssten wir alle Kinder aus diesen Unterkünften in Obhut nehmen. Und nicht wegen der Eltern, sondern wegen der Lebensbedingungen.“ Es bestehen meist keine Rückzugsmöglichkeiten, es gibt keine Ruhe – Stress und Druck herr- schen vor. Kinder erleben weiter Unsicherheit und Ungewissheit. n Die Eltern sind häufig selbst belastet und erleben die Restriktionen wie Arbeitsverbot, Sachleistungen oder die Enge der Unterkunft als Belastung. Druck und Angst sind zur Normalität geworden. Sie kennen seit Monaten oder Jahren nur den Ausnahmezustand und den Überlebensmodus. Der Blick für die psychischen Bedürfnisse der Kinder ist häufig verstellt. Oder die Belastungen sind so normal geworden, dass sie auch für die Kinder gelten. Die Erfahrung zeigt: wenn Flüchtlingskinder zur Therapie angemeldet werden, dann meist über die Schule, Sozialarbeiterinnen bzw. -arbeiter oder andere Fachkräfte – selten von den Eltern. Nicht, weil Flüchtlingseltern ihre Kinder nicht lieben oder unfähig zur Erziehung sind, sondern weil sie selbst im Krisenmodus leben. n Arif hatte nicht das Glück, dass Fachkräfte seine Not wahrnahmen. n Auf Flüchtlingskinder herrscht ein enormer Anpassungsdruck. Sie sollen gut funktionieren, nicht auch noch Anlass zu weiteren Sorgen geben und möglichst gut in der Schule sein. Bei Arif kam zusätzlicher Druck hinzu, weil ein Aufenthalt für die Familie nur über Arbeit erlangt werden konnte. Das Asylverfahren war negativ verlaufen. Nur wenn auch Arif funktionierte, in Schule und Ausbildung erfolgreich war, konnte Sicherheit im Leben durch einen Aufenthaltstitel erlangt werden. Ängste, Erinnerungen und Verzweif- lung sollten verdrängt werden, bei allen Familienmitgliedern. Im Gespräch meinte Arif, dass er seinen Freunden in Deutschland nie von seinen Erlebnissen berichtet hatte. „Die hätten das gar nicht ausgehalten, wenn ich von dem erzählt hätte, was ich als Kind gesehen habe.“ Er selbst hält es auch nicht mehr aus zu schweigen. Arif geht inzwischen regelmäßig in Therapie. Die Erinnerungen wird er immer behalten. Aber er schafft es jetzt besser, sein Leben in Deutschland gut zu leben und die schrecklichen Bilder im Irak zu belassen. Jürgen Soyer, Geschäftsführer Refugio München Foto: fsHH, Pixa bay Er erzählt, dass er seit über zehn Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern in München lebt. Eigentlich lief alles gut. Arif machte seinen Abschluss in der Schule und absolvierte eine Lehre. Seit einem Jahr bekommt er aber nichts mehr auf die Reihe, trifft seine Freunde nicht mehr, will nicht mehr zur Arbeit gehen. „Ich halte die Erinne- rungen an den Krieg nicht mehr aus!“, so fasste er seine Verzweiflung zusammen. Arif musste als Kind mit ansehen, wie Menschen erschossen und Frauen vergewaltigt wurden. Mit 22 Jahren drohte er an diesen Erinnerungen zu zerbrechen. Es gibt keine Studien, die nachweisen würden, wie viele Kinder und Jugendliche mit Fluchterlebnissen traumatisiert sind oder unter psychischen Belastungen leiden. Für Erwachsene gibt es dazu viele Untersuchungen. Diese belegen, dass rund ein Drittel aller volljährigen Flüchtlinge unter den psychischen Folgen einer Traumatisierung leidet. Sie haben so bedrohliche Situationen erlebt, dass sie um ihr Leben oder das Leben anderer fürchten mussten. Dies kann zu verschiedenen psychischen Reaktionen führen. Die häufigste ist die Posttraumatische Belastungsstörung mit ihren sehr stark einschränkenden und oft quä- lenden Symptomen. Aber auch Angststörungen oder Depressionen sind häufige Folgen von traumatischen Erlebnissen. Da Kinder und Jugendliche in der Entwicklung noch nicht so gefestigt sind, kann man davon ausgehen, dass sie noch stärker unter solchen psychischen Krankheiten leiden. Bei Flüchtlingskindern und -jugend- lichen dürfte die Zahl deutlich über 30 Prozent liegen. Besondere Schutzbedürftigkeit wird ignoriert Weltweit sind rund 80 Prozent aller Flüchtlinge Frauen und Kinder. Ihre schlimmen Erfahrungen liegen in der Heimat mit Krieg, Verfolgung und Bedrohungen. Oft erfolgt die Flucht überstürzt. Besonders Kinder leiden darunter, weil sie sich nicht von Verwandten verabschieden können, Liebgewonnenes plötzlich aufgeben müssen, weil sie nicht

RkJQdWJsaXNoZXIy Mjk2NDUy