K3 No. 4 - Juli 2019

| 04 | 2019 23 Aufwachsen unter Druck Schwerpunkt Wenn die Bildungsbiografie zum Druckauslöser wird Alles, nur keine Mittelschule Laut Statistischem Bundesamt besuchten im Schuljahr 2016/17 die meisten Schülerinnen und Schüler (34,2 Prozent) ein Gymna- sium, dicht gefolgt von der Realschule mit 20,6 Prozent und der Mittelschule mit einem Anteil von 10,3 Prozent. 1 Es fällt auf, dass vor zehn Jahren der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die eine Mittelschule besuchten, fast doppelt so hoch lag, nämlich bei 19,7 Prozent. Auch ein Anstieg von Schülerinnen und Schü- lern, die auf eine integrative Gesamtschule gehen, ist zu verzeichnen. Nur in den Bundesländern Bayern und Brandenburg wird dieser Trend durchbrochen. 2 „Auf welche Schule wird mein Kind gehen?“ ist eine zentrale Frage, mit der sich Eltern in den ersten Schuljahren ihres Kindes auseinander- setzen müssen. „Am liebsten auf ein Gymnasium“, sagen viele Eltern. Oder zumindest auf die Realschule. Wenn beides nicht klappt, bleibt nur noch die Mittelschule. Dann sind die Kinder dort und nehmen in wenigen Tagen den üblichen Slang an. Sätze ohne Artikel und Präpositionen werden dann gerne gesagt: Hauptschule halt. Da hat die Namensän- derung von Haupt- zu Mittelschule wenig gebracht. Das Gefühl bleibt dasselbe, ganz unten in der Hierarchie zu stehen, nicht zur Elite des Landes zu gehören. Dazu kommen häufig ein hoher Migrationsanteil und der allgemein schlechte Ruf der Mittelschulen. Bei Meike (Name geändert) war das genau so. Sie geht in die 6. Klas- se einer Mittelschule in München. Eines ihrer größten Ziele ist, gute Noten zu bekommen, um so schnell wie möglich auf die Realschule zu wechseln. „Nein, meiner Mama ist das nicht so wichtig“, sagt sie im Einzelgespräch. „Allein ich will das.“ Doch wenn sie es schafft, gibt es ein Geschenk von der Mutter. Da drängt sich die Frage auf, welcher Wille hier vorrangig ist. Den Wunsch, die Schule zu wechseln, hatte Meike schon im letzten Schuljahr. Am Ende hatten die Noten noch nicht gepasst und der Klassenlehrer hatte empfohlen, dass sie unbedingt weiter an der Mittelschule bleiben solle. Nur weg von hier „Dann versuche ich es nächstes Jahr“, sagte sie und verfolgt wei- terhin zielstrebig ihre Pläne. Nun kam sie vor ein paar Wochen zur Ju- gendsozialarbeit, weil sie ihrer Mutter bis zu den Osterferien eine Liste mit drei relevanten Realschulen liefern soll. Sie ist damit überfordert und weiß gar nicht, wo sie anfangen kann. Für die Realschule wird ein Notenschnitt von 2,0 in den Hauptfächern benötigt. Ansonsten gibt es eine Aufnahmeprüfung zu Beginn des nächsten Schuljahres. Meike hat im Zwischenzeugnis einen Schnitt von 2,6. Ob sie sich bis zum Jahreszeugnis verbessern kann, ist noch offen. Am liebsten würde sie auf die Elly-Heuss-Realschule wechseln. Dort gibt es ein breites künst- Wenn Schule zu Dauerstress führt: Übertrittszeugnis, Nachhilfe, Druck der Eltern belasten Kinder. lerisches Angebot, das Meike gut gefallen würde. Auch Ballett wird dort angeboten und die Schule ist in der Nähe zum Taekwondo-Training, zu dem sie jede Woche geht. Ob sie auf der neuen Schule noch so viel Zeit für all ihre Hobbys haben wird, ist fraglich. Der Klassenlehrer bleibt bis heute bei seiner Empfehlung, die er Meike schon im letzten Jahr gegeben hatte. Er kann sich bei ihr einen M-Zug nach der 9. Klasse gut vorstellen. „Bis dahin ist Meike bei uns absolut richtig“, so der Lehrer. Meike und ihre Mutter wollen das nicht hören. Zu groß ist der Wunsch nach dem ersehnten Schulwechsel. Der Vater einer anderen Schülerin aus der 8. Klasse erzählt, dass er von seinem Arbeitskollegen mitleidsvolle Blicke erntete, als er ihm be- richtete, dass seine Tochter auf die Mittelschule gewechselt habe. Dass es Sophia (Name geändert) nun aber viel besser geht, sie gute Noten schreibt und viel ausgeglichener ist, das hört der Kollege gar nicht. Wie es den anderen Kindern und Jugendlichen auf den Realschulen, Gymnasien, privaten Wirtschaftsschulen oder Internaten geht, davon will niemand etwas hören. Ab der 5. Klasse gibt es Nachhilfe – vorerst nur einmal pro Woche. Doch um mithalten und das Klassenziel errei- chen zu können, werden die Nachhilfe-Einheiten auf zwei- bis dreimal pro Woche angehoben. Hauptsache, das Kind kommt auf eine höhere Schule. Wie viel Leistungsdruck und Last auf den Kindern liegt, kann sich kaum jemand vorstellen. Wollen sie doch ihre Eltern keinesfalls enttäuschen. Der Preis, den sie dafür oft bezahlen müssen, ist leider sehr hoch. In unserem Schulsystem muss sich endlich etwas ändern. Ein Anfang wäre schon, den Kindern länger Zeit zu geben, bis sie sich zwischen den weiterführenden Schularten entscheiden müssen. Das würde viel Druck wegnehmen. Romy Mahrla-Röös, Jugendsozialarbeit (JaS), KJR 1 Es wurden weitere Schularten erfasst, sodass die Addition 100 Prozent ergibt. 2 Statistisches Bundesamt, Schulen auf einen Blick, 2018 www.destatis.de/GPStatistik/servlets/MCRFileNodeServlet/DEHeft_ derivate_00035140/Schulen_auf_einen_Blick_2018_Web_bf.pdf Foto: A nne Garti, pixelio.de

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