| 01 | 2019 17 Sexualisierung der Gesellschaft Schwerpunkt Sexualkundeunterricht an Grundschulen Wissen schützt Die Zeit, in der Kinder beginnen, ihre Körperlichkeit zu entdecken, ist voller Spannungen, Widersprüche und Missverständnisse. Aufklärung über Anatomie und Funktionsweise bereits im Grundschulalter ist dringend notwendig, weiß Cornelia Schade, ausgebildete Hebamme, Autorin und Verfechterin einer Enttabuisierung von Sexualität bei Kindern und Jugendlichen. Bereits in dieser Stufe merkt man, wie groß der Informationsbedarf der Kinder ist. Die Eltern haben dagegen oft das Gefühl, dass wir zu früh mit dieser Aufklärung beginnen, und sind dann ganz erstaunt, welche Fragen ihre Kinder beschäftigen. Das Problem, das sich darin zeigt, ist, dass es ihnen auch heute noch peinlich ist, offen mit ihren Kindern darüber zu sprechen. Aber Kinder wollen wissen, woher die Babys kommen, warum es eine Monatsblutung gibt und viele Dinge mehr – übrigens ganz unabhängig von ihrer Herkunft und sozialen Prägung. Müssten ein solches Angebot nicht die Schulen machen? Wenn ich mit dem Aufklärungsunterricht in den 4. Klassen beginne, ist es höchste Zeit dafür. Ich hatte neulich einen „Notfall“ in einer dritten Klasse. Dort hatten Klassenkameraden einen Mitschüler gezwungen – gewissermaßen als Mutprobe – sich Pornos der übelsten Sorte anzusehen. Das Kind war danach völlig verstört, vertraute sich aber dem Lehrer an. Der wiederum informierte mich und wir haben unmittelbar eine Aufklärungsstunde angeboten. Die Schule allein ist wohl mit solchen Themen überfordert bzw. die Lehrkräfte nicht genügend ausgebildet. Die Hemmschwelle der Kinder, über Sexualität zu reden, ist also eher gering? Man muss nur das richtige Setting schaffen und Vertrauen aufbauen. Dann vertrauen sich die Kinder einem mit fast jeder Frage an. Die reichen dann von künstlicher Befruchtung über Transsexualität bis zu Verhütungsmethoden. Diese Aufklärung schafft ganz nebenbei Toleranz für andere Lebens- und Liebesentwürfe. Den Kindern wird klar, was wirklich wichtig ist im Leben. Noch einmal zurück zu diesem Porno-Fall. Anatomische Aufklärung allein würde nicht genügen. Ich gehe weiter und – wie im Fall dieses verstörten Kindes – spreche darüber, dass Sexualität mehr ist als ein technischer Vorgang. Diese Pornografie hat nichts mit dem echten Leben zu tun – und das spüren die Kinder dann auch, wenn man es ihnen erläutert. Die Kinder sollen erfahren, dass allein sie darüber bestimmen, welche Bilder sie in ihre Köpfe lassen und welche nicht. Das Internet ist dabei Fluch und Segen zugleich. Ich bin überzeugt davon, dass die weltweite Vernetzung der Menschen viel Positives für uns bringt. Andererseits werden dort Kinder mit Inhalten konfrontiert, die sie nicht einordnen und die sie aus der Bahn werfen können, wenn es eben keinen Aufklärungsunterricht gibt. Übrigens zeigt meine Erfahrung, dass alle Kinder – wirklich alle – Pornos anschauen. Hier sind Eltern oft sehr naiv und denken, dass ihr Kind das ja nie tun würde … Wie erleben Sie die Eltern in diesen Prozessen? Es gibt fast nur zwei Alternativen – entweder sehr offene Eltern oder ganz extreme. Extrem in dem Sinne, dass sie ihre Kinder völlig fern vom Thema Sexualität halten wollen. Die meisten Eltern sind tolerant und offen – die Extremen haben aber deutlichen Zuwachs. Es gibt beispielsweise Eltern, die ihre Kinder allein schon davor bewahren wollen, dass sie das Wort „Sex“ hören. Noch schlimmer wird es bei Aspekten wie Homosexualität oder Abtreibung. Man kann natürlich verschiedener Meinung sein und den Kindern eigene Werte vermitteln. Aber zumindest, was die anatomischen Voraussetzungen anbelangt, muss Klarheit herrschen. Muslimische Eltern erlebe ich da übrigens sehr aufgeschlossen, weil nicht zuletzt sie selbst etwas hinzulernen. Gibt es einen Zusammenhang zwischen altersgerechter Aufklärung und Verhinderung von Schwangerschaften im Kindesalter? Den gibt es ganz sicher. Eine solche Kinder-Schwangerschaft war der Auslöser dafür, dass ich diese Kurse anbiete. Die Kinder und Jugendlichen vergessen vielleicht das eine oder andere aus dem Angebot – sie handeln aber im Zweifel überlegter. Was bedeutet es inhaltlich und methodisch, Grundschulen Aufklärungsunterricht anzubieten? Cornelia Schade: Mein Konzept, das ich verfolge, ist sehr offen angelegt. Nicht zuletzt deshalb, weil man auf unterschiedliche Konstellationen und verschiedene Kinder reagieren können muss. In jedem Fall richtet sich dieses Angebot an den konkreten Bedürfnissen und Fragen der Kinder aus. Es muss eine vertrauensvolle Atmosphäre entstehen, in der sich alle trauen, teilzuhaben und mitzureden. Nichts soll irgendjemanden peinlich oder gar unangenehm sein – alle Fragen, die die Kinder beschäftigen, sollen zur Sprache kommen. Was bedeutet das konkret? Die Lehrkräfte rufen mich regelmäßig an, um meine Unterstützung anzufordern. Meist passiert das im Frühjahr. Bis zum Schuljahresende besuche in dann Woche für Woche andere Schulen und mache mein Aufklärungsangebot – in der Regel für 4. Klassen. Es gibt aber auch Mittelschulen, die ich betreue. Im zweiten Schritt müssen die Eltern darüber informiert werden, was geplant ist und welche Inhalte konkret besprochen werden. Ohne deren Zustimmung können die Kinder nicht teilnehmen. Danach finden offene Info-Abende für die Eltern statt, bei denen ich konkret berichte, was wir vorhaben. In kleinen Schulen kommen manchmal nur sieben oder acht – in großen bis zu 70 Eltern. Die Vorstellung der Themen visualisiere ich mit Zeichnungen, die ich auch später bei den Kindern einsetze. Für Mädchen und Jungs ist das Angebot gleich – ich mache diese Aufklärungskurse aber getrennt für die beiden Geschlechter. Die Basis bilden Informationen zur Anatomie des weiblichen und des männlichen Körpers. Ich erkläre, wie die Befruchtung der Eizelle stattfindet und was danach geschieht. Schließlich sprechen wir auch über die Veränderungen, die in der Pubertät durchlaufen werden. Zwischenfragen sind ausdrücklich und zu jeder Zeit erlaubt. Vertrauen ist alles beim Sexualkundeunterricht an Grundschulen, wie die Rückmeldungen der Kinder zeigen. Foto: privat
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