Dachzeile 34 das kommt | 04 | 2022 Alle(s) inklusiv!? Schwerpunk Was würde den Unterschied machen? Walchensee forever! Warum sollten junge Menschen mit körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigungen andere Sorgen und Wünsche haben als ihre gleichaltrigen Altersgenossen ohne Handicap? Wir haben uns darüber mit einer jungen Frau aus Holzkirchen unterhalten. „Kathi geht es gerade nicht so gut. Es scheint fast so, als hätte sie eine depressive Phase. Sie spricht wenig und zieht sich zurück“, erklärt Tini am Telefon als wir uns zum Treffen in Holzkirchen verabreden. Keine Entschuldigung, sondern nur der Hinweis, dass sie nicht sagen kann, ob ihre 20-jährige Tochter etwas zum geplanten Artikel beitragen kann. Doch allein die Begegnung mit ihr an diesem heißen Sommernachmittag ist eine Bereicherung, relativiert eigene Sorgen … Kathi ist bei ihren Hasen, als wir sie treffen, füttert sie und spielt mit ihnen. Wir gehen schon mal ins Haus – es wird nicht lange dauern, bis sich Kathi zu uns setzt. Und jetzt, wie beginnt man ein Gespräch mit einer jungen Frau mit Down-Syndrom? Kann man etwas Falsches fragen oder sagen? „Darf ich ‚du‘ zur dir sagen?“. Eigentlich eine Frage, die man jedem anderen Interview-Gast auch stellen würde. Ich darf, das Eis ist gebrochen und es stellt sich sofort das Gefühl ein, dass da ein Mensch am Tisch sitzt, der aufgrund seiner gesundheitlichen Verfassung besondere Bedürfnisse hat, der vor allem aber besondere Fähigkeiten und Kompetenzen besitzt. Ein Talent wird sofort erkennbar; wohl sogar mehr als ein Talent – eher eine Passion: Kathi bewirtet ihre Gäste und sorgt dafür, dass es ihnen gut geht. Sie macht uns einen starken Espresso, verteilt vorsichtig Eiskugeln in die bereitstehenden Schälchen. Sie fühlt sich wohl in dieser Rolle und wir alle am Tisch auch. So klar, wie Kathi zu verstehen gibt, dass ein eigenes Café oder eine Eisdiele ihr Traum wäre, so unmissverständlich fordert sie ihre Mutter auf, uns für das Interview allein zu lassen. Später wird sie sagen: „Mama nervt manchmal.“ Auch darin unterscheidet sie sich nicht von anderen Teenagern. Eltern, so lieb und gut sie es meinen, verletzen eben hin und wieder die Privatsphäre ihrer Kinder. Den Raum, den auch Kathi an diesem Nachmittag braucht, um aufzutauen und zu erzählen. Party machen, feiern, tanzen, in eine coole WG einziehen will Kathi und es klingt nach einem echten Plan, den sie hat. Man ahnt aber in diesem Moment auch, dass die junge Frau sehr genau weiß, dass sich das nicht ohne Weiteres realisieren lässt. Nicht zuletzt gesetzliche Vorschriften schränken die Entscheidungs- und Handlungsfreiheit von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen ein. Aber sie sagt unmissverständlich, was ihr Spaß macht und was sie gern tun will. Und immer wieder der Walchensee … Katharina Jürgens, Leiterin der Fachstelle Inklusion im KJR, die mit zu Kathis Familie nach Holzkirchen gekommen ist, hatte den Kontakt hergestellt. Sie kennt Kathi aus dem inklusiven Ferienangebot des KJR, das sie organisiert: das Walchenseelager. Kathi war mehrere Jahre Teilnehmerin, ist jetzt aber leider zu alt, um wieder dabei sein zu dürfen. Im letzten Jahr kam sie deshalb kurzerhand als Betreuerin mit in die Sommerfrische. So kann Empowerment auch aussehen, Teilhabe ganz praktisch, Inklusion konsequent zu Ende gedacht. Das Lager scheint Party, WG, erste Liebe – junge Menschen mit einer Behinderung haben natürlich die gleichen Träume, wünschen sich aber oft mehr Autonomie ein wahres Erweckungserlebnis für Kathi gewesen zu sein. Jeder zweite Satz handelt davon, sie spricht von den Freundinnen und Freunden, die sie dort kennengelernt hat. Sie konnte an diesem Ort sein, wer und was sie will; aber vor allem: weitgehend eigenständig handeln. Tini, die Mutter von Kathi, hatte im Vorgespräch erzählt, dass Kathi im letzten Jahr die Friedel-Eder-Schule, eine freie heilpädagogische Waldorfschule in Daglfing, abgeschlossen hat. Nach einem kräftezehrenden Corona-Jahr, das sie weitgehend zu Hause verbringen musste, wird sie ab September in den Berufsbildungsbereich der Lebenshilfe am Luise-Kiesselbach-Platz in München aufgenommen. Sicher eine gute Möglichkeit, Talente und Vorlieben zu entdecken und weiterzuentwickeln – aber eben kein wirklich inklusives Angebot. Inklusion wäre, wenn aus einem permanenten Sonderstatus, den man Menschen wie Kathi zuweist, Normalität mit und zwischen Gleichaltrigen ohne Beeinträchtigungen werden könnte. Dazu muss man an den individuellen Stärken anschließen. Bei Kathi sind das zum Beispiel der Umgang mit Gästen, selbständig einkaufen gehen, Sport treiben oder am Tablet Dinge ausprobieren. Zwischen behüten und fördern „Mama muss lernen, dass ich kein kleines Kind bin“, bricht es aus Kathi heraus. Das trifft ganz sicher auf viele Lebensbereiche zu – trotz des offensichtlichen Unterstützungsbedarfs, den die junge Frau auch in Zukunft haben wird. Katharina Jürgens versteht Angebote wie das Walchenseezeltlager so: Es geht um größtmögliche Autonomie, um unvoreingenommene Begegnungen und vorurteilsfreie Freundschaften, die allen (jungen) Menschen ermöglicht werden sollen. Die Lebenshilfe ist ein Weg dorthin, auch wenn man sich in diesen Werkstätten ein Mehr an „über die Grenzen hinaus“ wünschen würde. » Wir könnten öfter gemeinsame Kochfreitage machen; Crêpes-, Pizza- und Waffelbacktage sind auch ziemlich inklusiv. (Junge und Mädchen, 19) Foto: Marko Junghänel
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