| 01 | 2022 11 Resilienz und psychische Gesundheit Schwerpunkt Chancengleichheit und Partizipation als Schlüssel für Resilienz Die Systemfrage Welche Ressourcen brauchen Heranwachsende zur produktiven Lebensbewältigung in der spätmodernen Gesellschaft? Es ist an der Zeit, wieder die Frage zu stellen, welche Ressourcen Heranwachsende benötigen, um selbstbestimmt und selbstwirksam ihren eigenen Weg in einer so komplex gewordenen Gesellschaft gehen zu können. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich die folgenden Verwirklichungschancen nennen: 1. Urvertrauen zum Leben, 2. Dialektik von Bezogenheit und Autonomie, 3. Entwicklung von Lebenskohärenz, 4. Schöpfung sozialer Ressourcen durch Netzwerkbildung, 5. materielles Kapital als Bedingung für Beziehungskapital, 6. demokratische Alltagskultur durch Partizipation, 7. Selbstwirksamkeitserfahrungen durch Engagement. 1) Für die Gewinnung von Lebenssouveränität ist lebensgeschichtlich in der Startphase des Lebens ein Gefühl des Vertrauens in die Kontinuität des Lebens zentrale Voraussetzung. Ich nenne dies ein Urvertrauen zum Leben. Es ist begründet in der Erfahrung, dass man gewünscht ist, dass man sich auf die Personen, auf die man existentiell angewiesen ist, ohne Wenn und Aber verlassen kann. Es ist das, was die Bindungsforschung eine sichere Bindung nennt, die auch durch vorübergehende Abwesenheit von Bezugspersonen und durch Konflikte mit ihnen nicht gefährdet wird. 2) Eine Bindung, die nicht zum Loslassen ermutigt, ist keine sichere Bindung, deswegen hängt eine gesunde Entwicklung an der Erfahrung einer Beziehung, die Selbstvertrauen, Eigenständigkeit und Autonomie von Kindern fördert. 3) Lebenskompetenz braucht einen Vorrat von „Lebenskohärenz“. Werte und Lebenssinn stellen Orientierungsmuster für die individuelle Lebensführung dar. Sie definieren Kriterien für wichtige und unwichtige Ziele, sie werten Handlungen und Ereignisse nach Gut und Böse, erlaubt und verboten. Traditionelle Kulturen lassen sich durch einen hohen Grad verbindlicher und gemeinsam geteilter Wertmaßstäbe charakterisieren. Individuelle Wertentscheidungen haben nur einen geringen Spielraum. Der gesellschaftliche Weg in die Gegenwart hat zu einer starken Erosion immer schon feststehender Werte und zu einer Wertepluralisierung geführt. Dies kann als Freiheitsgewinn beschrieben werden und hat zur Folge, dass Heranwachsende in der Gegenwart als „Kinder der Freiheit“ charakterisiert werden. Gemeinsame Wertvorstellungen können nicht verordnet, sondern müssen gemeinsam erarbeitet werden. Jugendarbeit ist immer chancenorientiert 4) Wenn wir die sozialen Baumeister*innen unserer eigenen sozialen Lebenswelten und Netze sind, dann ist eine spezifische Beziehungs- und Verknüpfungsfähigkeit erforderlich, nennen wir sie soziale Ressourcen. Der Bestand immer schon vorhandener sozialer Bezüge wird geringer und der Teil unseres sozialen Beziehungsnetzes, den wir uns selbst schaffen und den wir durch Eigenaktivität aufrechterhalten (müssen), wird größer. Es zeigt sich nur zunehmend auch, dass sozioökonomisch unterprivilegierte und gesellschaftlich marginalisierte Gruppen offensichtlich besondere Defizite bei dieser gesellschaftlich zunehmend geforderten Beziehungsarbeit aufweisen. Für offene, experimentelle, auf Autonomie zielende Identitätsentwürfe ist die Frage nach sozialen Beziehungsnetzen von allergrößter Bedeutung, in denen Menschen dazu ermutigt werden, d.h. sie brauchen Kontexte sozialer Anerkennung. Hier ist die netzwerkfördernde Jugendarbeit von besonderer Bedeutung. 5) Ein offenes Identitätsprojekt, in dem neue Lebensformen erprobt und eigener Lebenssinn entwickelt werden, bedarf materieller Ressourcen. Hier liegt das zentrale und höchst aktuelle sozial- und gesellschaftspolitische Problem. Eine Gesellschaft, die sich ideologisch, politisch und ökonomisch fast ausschließlich auf die Regulationskraft des Marktes verlässt, vertieft die gesellschaftliche Spaltung und führt auch zu einer wachsenden Ungleichheit der Chancen an Lebensgestaltung. Ohne Urvertrauen, Selbstwirksamkeit, Teilhabe – damit können Kinder und Jugendliche die Klippen des Lebens gut umschiffen. Die Pandemie veranlasst zu einem sorgenvollen Blick auf die gesundheitliche Situation von Heranwachsenden. In der ersten Phase der Pandemie gab es kaum einen differenzierten Blick auf die Folgen der Kontakteinschränkungen und der Verbannung in die häusliche Klausur für Kinder und Jugendliche. Das hat sich inzwischen verändert. Jetzt dominiert wieder die Defizit-Perspektive auf das Aufwachsen in Deutschland. Die geistige „Lufthoheit“ zu Fragen von Erziehung haben seit einigen Jahren eindeutig die Verkünder*innen von Katastrophen und Endzeitstimmungen übernommen. Besonders hat sich der Notstandsverkünder und Kinderpsychiater Michael Winterhoff öffentlich wirksam profiliert. Für ihn sind die meisten Kinder in Deutschland gestört, in ihren körperlichen Fähigkeiten, ihrer sprachlichen Entwicklung, ihrem Sozialverhalten. Sie bewegten sich kaum noch, ihr schulisches Leistungsniveau sinke. Als Verursacher der Defekte macht Winterhoff die Lehrerschaft, Erzieher*innen, aber vor allem die Eltern aus. Weil sie Konflikte scheuten und keine Grenzen mehr setzten, verhinderten sie, dass die Kinder altersgerecht heranreiften. Bei 70 Prozent entdeckt der Autor gar pathologische Züge. Wenn diese Kinder – Winterhoff nennt sie „Monster“ – erwachsen würden, bedrohten sie „die Existenz unserer friedlich zusammenlebenden Gesellschaft“. Winterhoffs Stimme dürfte kein Gehör mehr finden, nachdem seine grenzüberschreitenden pharmakologischen „Therapien“ als Menschenrechtsverletzungen zu strafrechtlichen Maßnahmen geführt haben. Bild: Luisella Planeta Leoni auf Pixabay.com » Ich habe das Gefühl, die Blütezeit meines Lebens zu verpassen. Fühle mich oft sehr einsam und unausgelastet. Möchte gerne tanzen und feiern gehen, habe Angst. Alle Aussagen stammen von Teilnehmer*innen der Online-Jugendbefragung 2020 und der Zusatzbefragung „zu Corona nachgefragt“.
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