K3 No. 6 - Dezember 2021

| 06 | 2021 25 Wahrheit & Wissen Schwerpunkt Wahrheit und Wissen als Momentaufnahmen Wissen, philosophieren, handeln Julia Blum-Linke ist Projektleiterin an der Akademie für Philo- sophische Bildung und WerteDialog. Sie ist überzeugt: Kinder brauchen nicht zwingend lexikalisches Wissen, um der Wahrheit näherzukommen. Ab welchem Alter haben die Begriffe „Wahrheit und Wissen“ für Kinder eine Bedeutung? Wir philosophieren schon im Kindergartenalter und versuchen dabei, die Fragen der Kinder aufzugreifen. Aus ihnen selbst heraus spielt dabei das Begriffspaar eher keine Rolle. Aber Kinder wollen verstehen, und sie wollen Informationen, die wahr sind. Sie fragen beispielsweise danach, warum ein Schiff auf dem Wasser fahren kann. Unsere Reakti- on als Erwachsene wäre üblicherweise, wie ein Lexikon zu antworten. Wenn wir mit Kindern philosophieren, bewegen wir uns aber nicht zwingend auf der Sachebene, sondern fragen vielmehr nach, was die Kinder genau wissen wollen und warum. Etwa: Was denkst du, warum ist das so? So kommen wir ins Gespräch. In diesem Gespräch zeigt sich, welches Interesse hinter der Frage steckt. Nicht Faktenwissen ist für Kinder beim Philosophieren interessant, sondern es geht darum, wie sie ihre Neugier auf die Welt in Worte fassen, wie sie aufeinander eingehen. Wahrheit und Wissen sind aus meiner und der Sicht der Kinder also verengende Begriffe, wie man sie bis heute in der Schule verwendet. Wahrheit und Wissen reichen aber über Wikipedia hinaus und sind in jedem Fall sozial konnotiert. Ist Wissen für Kinder also zunächst zweckfrei? Kinder verbinden die Dimension Wissen in der Regel (noch) nicht mit Macht. Sie betrachten Wissen als Orientierungshilfe, als zumindest vorläufige Ankerpunkte, um sich in einer Welt zurechtzufinden, die neu ist für sie und noch für längere Zeit bleiben wird. Das Wissen ist kein Mittel zum Zweck, sondern ergibt sich aus einem ureigenen Er- kenntnisinteresse. Wissen entsteht aus dem Staunen und dem Fragen. Ist in diesem Zusammenhang der Begriff „Gewissheit“ relevant – als Gegenpol zu Angst und Unsicherheit? Ich weiß, dass es für Kinder einerseits immer um Stabilität, Orien- tierung und ein Miteinander geht. Kinder richten also ihr Innerstes danach aus, wie man angenommen wird in der Gemeinschaft, wie man in einer komplexen Welt zurechtkommt. Andererseits hindern uns diese Sicherheiten, die wir von außen vermittelt bekommen und die keine individuellen Gewissheiten sind, am Entdecken. Um Neues zu erkennen, muss ich Altes hinter mir lassen. Ist das Neue mit zu viel Ungewissheit verbunden, bin ich dankbar dafür, mich auf bestehende Gewissheiten verlassen zu können. Ich würde so weit gehen zu denken, dass Sicherheit und Gewissheit eher Dimensionen der Erwachsenen sind. Kinder wollen aus sich selbst heraus die Welt entdecken und stellen viele Warum-Fragen. Sie sagen, dass Kinder heute weniger fragen – sie konsumieren eher Antworten. Wie gehen Sie damit in ihrer Arbeit um? Das Phänomen, dass Kinder heute weniger Fragen stellen, war einer der Gründe, die Akademie ins Leben zu rufen. Unser Ansatz war und bleibt, die Frage-Kultur der Kinder zu (be-)fördern. Es geht nicht um die Fragen von Erwachsenen oder von Philosophinnen* und Philosophen*, sondern um die der Kinder. Pädagogische Fachkräfte hatten uns damals immer wieder erklärt, dass sie mit den bohrenden Fragen von Kindern oft überfordert seien, weil sie keine konkreten Antworten parat hätten. Unsere Antwort darauf lautet: fragt zurück, fragt die Kinder, was sie brauchen, was sie wirk- lich wissen wollen, was ihnen wichtig ist, was sie mit ihren Gedanken ausdrücken möchten! In unserer Akademie bilden wir Pädagoginnen* und Pädagogen* darin aus, achtsam hin- und zuzuhören. Das erfordert Konzentration und Präsenz. Ziel ist, eine Gesprächskultur entstehen zu lassen, die echte Begegnung und individuelle Erkenntnis ermöglicht. Man fragt: Wie

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