K3 No. 4 - September 2021

| 04 | 2021 29 Arbeit und Beruf(sorientierung) Schwerpunkt Wäre da eine Absenkung der Qualitätsstandards in punkto Ausbil- dung eine Option? Christian: Das ist keine Option, weil die Anforderungen an das Arbeits- feld stetig steigen. Auch die Ansprüche und Erwartungen der Eltern steigen. Das setzt ein Mindestmaß an pädagogischen Vorkenntnissen voraus, die keinesfalls unter denen liegen dürfen, die Erzieher*innen nach der Ausbildung mitbringen. Petra: Eine Absenkung der Qualitätsstandards ist auch für den Kreis- jugendring kein Weg. Es steigen nicht nur die Ansprüche der Eltern, sondern auch die gesetzlich geforderten Qualifikationen im Umgang mit Kindern. Zudem müssen wir in den Kindertageseinrichtungen auch immer wieder Entwicklungsdefizite auffangen und so die Kinder bestmöglich auf die Schule vorbereiten. Der Bedarf kann also nicht allein durch ausländische Arbeitskräfte gedeckt werden? Christian: In München lebten zum Beispiel viele junge Menschen, deren Eltern aus dem ehemaligen Jugoslawien kamen. Diese Generation ist zum Studium oft wieder nach Bosnien oder Kroatien zurückgegangen, hat dort eine wirklich gute Ausbildung in einem pädagogischen Beruf absolviert und spricht fließend deutsch. Diese Qualifikationen werden hier nicht ausreichend gewürdigt. Gut, dass es mittlerweile Zwischen- abschlüsse gibt, die diesen Menschen ermöglichen, als Fachkräfte in unseren Einrichtungen zu arbeiten. Petra: Diese Menschen bringen vielfältige Qualifikationen mit – nicht zuletzt interkulturelle Kompetenz und Mehrsprachigkeit. Das Team profitiert in jedem Fall davon. Ich wünsche mir ein Anerkennungs­ system, das wesentlich flexibler ausgelegt ist und uns Freiräume schafft. Was muss geschehen, um den Erzieher*innen-Mangel zu beseitigen? Christian: Ich bin skeptisch, dass wir bald den Bedarf decken können. Wichtig wäre, dass es möglich ist, die Fach- und Ergänzungskräfte unbü- rokratisch und bedarfsgerecht um geringer qualifizierte Aushilfskräfte zu ergänzen, die Tätigkeiten übernehmen, für die keine pädagogische Ausbildung nötig ist. Zum Schnürsenkel-Binden und Anziehen brauche ich keine Erzieher*innen-Ausbildung – solche Mitarbeiter*innen helfen im Alltag aber enorm. Zur Verdeutlichung: Geht eine Krippengruppe in den Garten, kann das Anziehen im Herbst oder Winter schon mal eine Viertel- bis halbe Stunde dauern. Petra: Es muss weiterhin überlegt werden, wie die Ausbildung attrak- tiver gemacht werden kann. Ein erster Schritt ist die Optiprax-Ausbil- dung. Hier verzahnen sich Theorie und Praxis sehr eng. Führt die Situation zu verstärkter Konkurrenz unter den Trägern? Christian: Ich erlebe nach wie vor einen sehr kooperativen Umgang unter den Münchner Trägern. Das Gute an der Situation in München ist die Vielfalt der Träger. Man kann sich wirklich den passenden Ar- beitgeber suchen – und bleibt dann in der Regel länger. Große Träger wie der Jugendring oder der Caritasverband bieten hervorragende berufliche Perspektiven. Petra: Ich bin dankbar für das gute Verhältnis zu anderen Trägern. Es gibt einen regelmäßigen fachlichen Austausch. Wir wollen ja alles das Gleiche – bestmögliche Bedingungen für Kinder. Und wir sind alle in einer ähnlich angespannten Situation in Sachen Fachkräfte. Christian: Es wird wohl leider nicht gelingen, rechtzeitig mehr Mit- arbeiter*innen zu gewinnen, wenn in spätestens fünf Jahren der Rechtsanspruch auf Ganztagsbildung kommt. Und die Arbeit mit den Eltern wird schwieriger, weil Familien zunehmend unter Druck stehen. Corona ist da nur eine Ursache. Wir spüren das beispielsweise an einem deutlich höheren Bedarf an psychologischer Begleitung. Petra: Wir brauchen mehr Familienzentren, die die hochbelasteten Familien aufgefangen. Dabei ist vieles hausgemacht: Eltern wünschen sich Fremdsprachenangebote in der Kita, die Öffnungszeiten sollen ausgeweitet werden, die Kita soll möglichst breit die Aufgaben der häuslichen Familienbetreuung übernehmen – bis hin zum gemeinsamen Waldausflug am Wochenende. Ich beobachte eine zunehmende Angst der Eltern, dass ihr Kind nicht ausreichend auf die Schule vorbereitet sei. Eltern müssen aber gelassener werden – das würde nicht nur das Familienleben entspannen, es hilft auch unseren Alltag in den Ein- richtungen deutlich zu entzerren. Interview: Marko Junghänel P E T RA KU T Z N E R , Jahrgang: 1965, Grundschullehrerin, staatlich anerkannte Erzieherin; Kindergartenfachwirtin; Fachwirtin für den sozialpädagogischen Bereich, seit 2013 Abteilungsleiterin KitaE im KJR, von 2012 bis 2020 Mitglied im Vorstand der Nachbarschaftshil- fe Puchheim, im letzten Jahr stellvertretende Vorstandsvorsitzende CHR I S T I AN MÜ L L E R , Jahrgang 1967, Diplom-Sozialpädagoge (FH), Mitglied im Vorstand des KJR 1993 bis 2003, von 1999 bis 2003 KJR-Vorsitzender, seit 2002 ehrenamtliches Mitglied des Münchner Stadtrats, seit 2019 Vorsitzender der SPD-Volt-Fraktion im Münchner Stadtrat, seit 2011 Fachbereichsleiter für Kinderta- geseinrichtungen beim Caritasverband München und Freising Absolute Mangelware: Männer im Erzieher-Beruf, der Bedarf an Fach- personal wird weiter steigen Berufsorientierung in Zeiten der Pandemie Schon das zweite Corona-Schuljahr Ich erinnere mich noch gut an die Abschlussfeier im Juli 2020. Die erste Corona-Welle war gerade vorüber und meine Rektorin begann ihre Rede mit den Worten: „Ihr werdet in die Geschichte als der ‚Corona-Jahrgang‘ eingehen“. Auch sie ahnte damals nicht, was pandemiebedingt im folgenden Schuljahr auf die Jugendlichen und uns zukommen würde. Einige Stu- dien belegen mittlerweile die gravierenden Auswirkungen der vielen Ein- und Beschränkungen für Jugendliche; auch die Berufsorientierung (BO) blieb davon nicht unberührt. Foto: H ans-Günter Siewerin auf Pixabay.com

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