K3 No. 5 - November 2020

Dachzeile 18 das kommt | 05 | 2020 Bilder (im Kopf) Schwerpunk Das ICH im Bild Inszenierte Realität Wer besitzt ein Smartphone und hat noch nie ein Selfie gemacht? Wer hat sich noch nie vor einer Sehenswürdigkeit, einer „Be- rühmtheit“, einem angesagten Laden oder mit den eigenen coo- len Freundinnen und Freunden aufgenommen und die Bilder als „Insta-Gold“ genutzt? So bewegt sich ein Selfie zwischen Individualität und notwendiger Anpassung an einen geheimen Selfie-Code der jeweiligen Generation. Ein Selfie darf dabei niemals so wirken, als sei es bereits zwei oder drei Jahre alt. Rund der Hälfte der jungen Menschen ist klar, dass die Elterngeneration diesen Code nicht kennt und deswegen auch pein- liche Selfies produziert, weil Kontext und Hintergrund ebenso wenig stimmen wie das Posing. Natürlich schön, natürlich gesund Wichtig ist dabei immer, den schmalen Grat zur Selbstverliebtheit nicht zu überschreiten, (öffentlich) nicht nur auf Likes und Anerken- nung zu setzen, auch wenn es letztlich das ist, worum es geht. Junge Menschen kritisieren dabei bei anderen, was sie selbst antreibt, nämlich möglichst viele Likes zu erhalten, möglichst eine größere Reichweite zu erzielen als andere. 30 Prozent der jungen Menschen sehen „berühmt werden“ heute als Lebensziel für sich an (zum Vergleich: vor zehn Jahren waren das deutlich weniger als 15 Prozent). Diese Konzentration auf das perfekte Selbstbild, die perfekte Insze- nierung sorgt dafür, dass viele junge Menschen den Moment um sich herum nicht mehr wirklich erleben. Zwei Drittel der Befragten geben an, dass sie erst durch das nachträgliche Betrachten ihrer Selfies erfahren, was sie eigentlich erlebt haben. Und für 44 Prozent ist ein Erlebnis erst dann schön oder wertvoll, wenn das Selfie davon viele Likes bekommen hat. Erlebnisse ohne Likes sind nichts wert, machen eine schlechte Erinnerung. Durch ein Selfie wird ein bestimmter Moment kontrolliert, im Hier und Jetzt genauso wie für später. Diese Kontrolle entspringt dem Gefühl des Ausgeliefertseins vieler junger Menschen. Sie suchen Sicherheit und versuchen diese darüber zu erreichen, dass sie kontrollieren, was über sie selbst und über ihr Leben in der Öffentlichkeit bekannt wird, wie sie gesehen werden sollen. Was oft so einfach, so spontan und natürlich aussieht, ist Ergebnis einer genauen Planung und vieler Versuche. Knapp die Hälfte der Mädchen und jungen Frauen gibt an, mehr als 50 Selfies zu machen, bis das richtige dabei ist. Rund 40 Prozent brauchen 30 Minuten und mehr für ein Selfie. Spontanität und Natürlichkeit will genauestens inszeniert sein. Das betrifft nicht nur die Umgebung, sondern auch die Person selbst. Styling und Make-up (das aber unsichtbar sein soll) sind vor allem für Mädchen essenziell, denn – so bringen es machen Jungen in der Studie auf den Punkt – ungeschminkt sieht schnell krank aus. Schönheit, Natürlichkeit und Gesundheit scheinen die wichtigsten Aussagen eines Selfies zu sein, dabei nachzuhelfen ist nicht nur erlaubt, sondern gelebter Alltag. Deswegen darf es auch nicht verwundern, dass Schönheitsoperationen durchaus akzeptiert sind. Rund ein Viertel der Befragten gibt an, eine solche OP vornehmen zu lassen, wenn das Geld dafür vorhanden wäre. „(…) anders als vorherige Generationen verspüren die Jugendlichen auf mindestens drei Ebenen einen Kontrollverlust: auf der physischen, der gesellschaftlichen und der familiären. Durch Pflege und Kosmetik können sie ihr Selbstbewusstsein stärken und einen Teil ihres Lebens wieder selbst in die Hand nehmen. Das ist heute für Jungs und Mädchen gleichermaßen elementar“. 3 Dr. Manuela Sauer, Grundsatzreferentin, KJR 1) Selfies ungeschminkt. Studie wurde durchgeführt von Lönneker & Imdahl rheingold salon im Auftrag des IKW www.rheingold-salon. de/selfies-ungeschminkt, der Artikel fasst die Ergebnisse der Stu- die zusammen. 2) ebenda, S. 2 3) ebenda, S. 7 Ich bin jung, ich bin schön, mein Leben ist spannend – anders sein und doch dazugehören dank Selfie. Je jünger die Nutzerinnen und Nutzer, desto wahrscheinlicher ist eine verneinende Antwort. Laut einer repräsentativen Studie 1 machen 85 Prozent der Jugendlichen Selfies. Allerdings geben nur 27 Prozent zu, dass Selfies eine große Bedeutung für sie haben. Dieser Art der Selbstinszenierung haftet noch immer etwas Peinliches an. Deswegen ist für viele Jugendliche ein Bild, auf dem sie selbst zu sehen sind, zunächst nur ein Bild, aber kein Selfie. Dennoch – rund ein Viertel der 14- bis 21-Jährigen macht mindestens einmal täglich ein Selfie. „Selfies dienen dazu, wie der Name schon nahelegt, ‚sich selbst zu finden‘. Und Selbstfindung findet aus psychologischer Sicht fast immer in Abgrenzung zu anderen statt: zu den Eltern, den Freunden oder Lehrern; Hauptsache anders sein als die anderen und etwas Be- sonderes. Gleichzeitig wollen die jungen Menschen dazugehören: zu ihrer Gruppe, den Freunden oder der Community im Netz. Sie wollen sich an Trends anpassen, wissen was angesagt ist und möchten das auch zeigen. Anpassung ist ebenso ein Teil ihrer Selbstfindung.“ 2 wenn andere Frames strategisch einsetzen bzw. wie man dies selbst tun kann. Da uns auch künftig die Zeit fehlen wird, alle Dinge aus eigener Anschauung heraus zu bewerten, sind wir darauf angewiesen, dass es solche Deutungsrahmen gibt. Kinder und Jugendliche müssen lernen, damit umzugehen. Interview: Marko Junghänel Foto: Peggy und Marco Lachmann-Anke, pixabay.de

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