K3 No. 3 - Juli 2020

Dachzeile 30 das kommt | 03 | 2020 Widerstand Schwerpunk taten ihr Bestes, um die Bürgerinnen und Bürger über ihre Rechte zu informieren, falls sie auf ein Polizeirevier gebracht würden. Einige begeisterte Anwältinnen und Anwälte verteilten sogar Aufkleber mit ihren Telefonnummern, falls wir ihre Hilfe bräuchten. Zusammen waren wir stark In den letzten Tagen der Revolution waren alle Hauptstraßen von Eriwan und einige der Ausfallstraßen in andere Städte vollständig blo- ckiert. Dies war für einige der Demonstrierenden eine Herausforderung, weil sie in anderen Städten leben. Doch „unser Blut kochte“ und nichts konnte uns aufhalten. So mussten einige von uns aus Etschmiadsin den halben Weg nach Eriwan laufen, um an den Protesten teilzunehmen. Eine weitere Schwierigkeit, mit der wir in den letzten Tagen der Re- volution konfrontiert waren, bestand darin, gegen die Polizei vor dem Parlamentsgebäude vorzugehen. Wir hielten uns an den Händen und drängten uns in die ersten Reihen des Protests, als die Polizei begann, Gasgranaten auf uns zu werfen. In diesem Moment war das Gefühl so bittersüß. Ich war froh, dass ich Teil einer so großen Veränderung war. Doch ich hatte auch Angst. Es gab mehrere Menschen, die durch die Gasgranaten verletzt wurden, darunter ein junges Mädchen, das aus dem Iran gekommen war, um für ein freies Armenien zu kämpfen. Am Ende haben wir erreicht, was wir wollten. Als der damalige Pre- mierminister Sersch Sarkissjan zurücktrat, waren unsere Herzen mit Freude, Aufregung und Patriotismus erfüllt. Davor wollten die meisten jungen Armenierinnen und Armenier wegziehen, weil wir wussten, dass wir in dieser korrumpierten Gesellschaft keine Zukunft haben würden. Als WIR jedoch die Revolution gemeinsam verwirklichten, wurde uns klar, wie stark wir waren. Narek Shamamyan (Übersetzung: Michael Graber, unter Mithilfe von www.DeepL.com) Die letzten Wochen in der Corona-Pandemie erinnern zuweilen an den Daschner-Prozess von 2004. Stark vereinfachend wiedergegeben lautete die Frage damals: Darf der Staat körperliche Folter anwen- den, wenn es um die Menschenwürde – respektive um die Rettung eines anderen Menschenlebens – geht? Oder in den Worten des Grundgesetzes formuliert: wann dürfen Grund- bzw. Menschenrechte ausgesetzt werden? Der Fall des damals entführten Bankierssohns Jakob von Metzler ist komplex. Die Kernthese darin wird heute erneut bei den sogenannten „Hygiene-Demos“ thematisiert. Gibt es Situationen, in denen es gerechtfertigt ist, dass der Staat die Grundrechte von Menschen massiv einschränkt? Reichskanzler The- obald von Bethmann Hollweg hatte 1914 in seiner Rede im Berliner Reichstag eine Formulierung verwendet, die sich bis in unsere Tage hinein in die Hirne eingebrannt zu haben scheint: „Not kennt kein Gebot!“ Doch der Zweck heiligte weder damals noch heute die Mittel. Unter anderem die Bayerische Landesregierung hat am 17. März 2020 ein sofortiges Versammlungsverbot erlassen, um der Ausbreitung des Corona-Virus Herr zu werden. Demonstrationen oder Gottesdienste wurden komplett verboten; Zuwiderhandlungen strafbewehrt. Was aus der Perspektive eines vermeintlich sorgenden Staates folgerichtig und notwendig erscheint, bedeutete in der Praxis die Aushebelung fundamentaler Grundrechte. Daran ändert auch das Feigenblatt des im Nachgang eilig eingesetzten „Dreierrats Grundrechtsschutz“ wenig. Heribert Prantl formulierte am 20. April im ZDF Morgenmagazin: „Angst ist derzeit eine Autobahn für das Abräumen von Grund- rechten.“ Die Angst der Menschen vor einem neuen und weltweit wütenden Virus nehme der bundesdeutsche Staat als Gelegenheit, Grundrechte temporär abzuschaffen. Dieser Vorwurf wiegt schwer. Vielleicht verbirgt sich dahin auch die Erkenntnis eigener Ängste in- nerhalb der politischen Eliten. So war Widerstand vorprogrammiert. Dass der sich nun lautstark Bahn bricht, dass dieser Widerstand die Wiederherstellung von Versammlungs- oder Religionsfreiheit einfordert, ist ein gutes Zeichen für die Demokratie, die per se soziale Distanz überwinden und Fragmentierung einer Gesellschaft eindämmen will. Was sich dann aber auf der Münchner Theresienwiese oder dem Cannstatter Wasen in Stuttgart zeigte, ist das exakte Gegenteil einer wachsamen Demokratie. Es bedeutet Entsolidarisierung der Gesellschaft. Diese euphemistisch als „Hygiene-Demos“ betitelten Zusammenkünfte sind eine Gefahr für das demokratische Gemeinwe- sen. Wenn Menschen in Sorge um die Grund- und Menschenrechte deutlich vernehmbar ihre Meinung sagen, ist das richtig. Wenn sie dabei aber stillschweigend akzeptieren, dass ihre Kundgebungen von Rechtsnationalen, Faschisten oder anderen Feinden der Demokratie unterwandert und instrumentalisiert werden, ist das inakzeptabel, unentschuldbar und zu verurteilen. Menschen, die für ihre verbrief- ten Grundrechte eintreten, können keine gemeinsame Sache mit geistigen Brandstiftern machen, die einen gelben Davidstern oder Plakate mit der Aufschrift „Kill Bill“ tragen. Auch hier heiligt der Zweck niemals die Mittel. Ja, Menschen haben Angst vor dem Unbekannten, Bedrohlichen – dem Eingeständnis, dass nichts sicher ist. Die Lösung darf aber weder die handstreichartige Beschneidung von Grundrechten noch die Aufkündigung des demokratisch errungenen Konsenses darüber sein, Rassismus, Antisemitismus und das Infragestellen des staat- lichen Gewaltmonopols zu ächten. All das würde zu einer weiteren Spaltung unserer Gesellschaft führen – ein Szenario, das in diesen hochkomplexen Zeiten verheerende Folgen hätte. Kommentar Auch Not kennt ein Gebot Von Marko Junghänel

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