K3 No. 3 - Juli 2020
| 03 | 2020 21 Widerstand Schwerpunkt Pubertät: Individuation und Konflikte bei jungen Menschen Der Balance-Akt Das Jugendalter bringt viele Veränderungen mit sich – so auch die Umgestaltung der Beziehungen innerhalb der Familie. onen zu. Jugendliche entwickeln eigene Ideen und Meinungen, für die sie in Interaktionen selbstsicher einstehen. In der Auseinandersetzung mit den Eltern nehmen die Jugendlichen mehr Einfluss auf Entschei- dungen. Auch wenn dies anfänglich zu einem Anstieg negativer Gefühle führt, folgt langfristig eher eine Zunahme des Verbundenheitsgefühl (Becker-Stoll et al. 2000; Pinquart und Silbereisen 2003). Eltern-Kind-Konflikte Jugendliche erleben vielfältige Veränderungen in der Adoleszenz: 1) hormonale Veränderungen, die das emotionale Erleben verstärken, 2) körperliche Reifung und damit einhergehende soziale Signale, die Jugendliche dazu veranlassen, eine „erwachsenere“ Behandlung durch die Eltern zu erwarten, und 3) kognitive Entwicklungen, die den Jugend- lichen komplexere Argumentationsmuster in Auseinandersetzungen mit den Eltern ermöglichen. Für die Familie besteht die Herausforderung, sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen. Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Eltern-Kind-Konflikte vor allem in der mittleren Adoleszenz deutlich zunehmen, zeigt eine einschlägige Metaanalyse ein abweichendes Bild: Konflikte zwischen Jugendlichen und Eltern nehmen im Verlauf zwischen frühem, mittlerem und spätem Jugendalter weitgehend kontinuierlich ab (Laursen et al. 1998). Allerdings nimmt die emotionale Intensität der Auseinander- setzungen im Übergang vom frühen zum mittleren Jugendalter zu. Die Frage der Autonomie ist ein zentraler Gegenstand der Konflikte. Inhaltlich werden alltägliche Angelegenheiten des Familienlebens diskutiert, wie Haushaltspflichten, Ausgehzeiten und die äußere Erscheinung (Holmbeck 1996). Je nach Alter der Jugendlichen stehen andere Themen im Mittelpunkt. Sie verkörpern entwicklungsbezogene „Territorialkämpfe“ – von den Hausaufgaben bis zum Ausgehen. Wenngleich Diskussionen und Meinungsdifferenzen im Alltag häufig auftreten, liegen ernsthafte Beziehungsstörungen seltener vor. Nur rund 7 Prozent der Jugendlichen bewerten das Verhältnis zu den Eltern als weniger gut oder schlecht. Die Shell-Studie von 2019 zeigt, dass etwa die Hälfte der Jugendlichen trotz gelegentlicher Meinungsver- schiedenheiten ein gutes Verhältnis zu ihren Eltern hat. Der Anteil der Jugendlichen, die das Verhältnis als positiv bewerten, nimmt zudem seit Jahren zu (Shell Deutschland, 2019). Familien, in denen es schon im Kindesalter vermehrt zu Konflikten kam, haben ein höheres Risiko, dass solche Konflikte in der Adoleszenz intensiviert werden (Conger und Ge 1999). Herausforderungen für Eltern Mit den Autonomiebestrebungen der Jugendlichen geht häufig einher, dass sie den Eltern gegenüber weniger mitteilsam sind. Dies begrenzt die elterliche Einflussnahme. Der Versuch über insistierendes Nachfragen Kontrolle zurückzuerlangen, ist meist wenig effektiv. Wie sich die Kommunikation im Jugendalter gestaltet, wird maßgeblich von der bereits eingeübten familiären Kommunikationskultur und dem bestehenden Vertrauensverhältnis beeinflusst. Dabei können gerade in den als sicher erlebten Beziehungen sehr intensive Auseinander- setzungen ausgetragen werden. Auf der Seite der Eltern sind daher in hohem Maße kommunikative Kompetenzen erforderlich, wenn Polari- sierungen vermieden werden sollen. Dr. Eva-Verena Wendt, Prof. Dr. Sabine Walper, Deutsches Jugendinstitut e.V. Auf dem Weg zum Ich führt der Weg oft über Stolperfallen und Konfliktherde Beeinflusst wird dieser Prozess durch die Pubertäts-Entwicklung, Kompetenz-Zuwächse bei den Jugendlichen, u.a. im Denken, Argu- mentieren oder vorausschauenden Planen, und durch die Konfrontation mit alterstypischen Normen und Erwartungen. Handlungsspielräume eröffnen sich, Verantwortlichkeiten werden neu ausgehandelt. Eltern erleben diese Entwicklungsphase oft als besondere Heraus- forderung. Die Jugendlichen orientieren sich immer mehr an ihrer Umgebung, an Freunden und Gleichaltrigen, und ihre zunehmenden Autonomiebestrebungen können zu Reibungen führen. Nicht zuletzt geht es in dieser Phase darum, die Schule möglichst gut abzuschließen. Individuation – Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit Eine zentrale Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz ist die Entwick- lung einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit sowie die schrittweise Autonomiegewinnung gegenüber den Eltern, die oft als Ablösung beschrieben wird (Oerter und Dreher 2008). Wie das Konzept der Indi- viduation zeigt, muss Autonomie jedoch nicht zwingend auf Kosten von Verbundenheit erfolgen (Blos 1977). Vielmehr wirkt sich eine Balance zwischen Autonomie und Verbundenheit positiv auf die Individuation im Jugendalter aus. Hierbei ist der Gedanke eines ko-konstruktiven Individuationsprozesses zentral (Youniss und Smollar 1985): Eltern leisten einen aktiv-unterstützenden, ko-konstruktiven Beitrag zur Erweiterung von Autonomiespielräumen ihrer Kinder. Zudem verringert sich das Machtgefälle zwischen Eltern und Kind – die Beziehung wird zunehmend egalitär. Im Jugendalter nimmt das selbstbewusste Vertreten eigener Positi- Foto: pixabay.de
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